Michael Kempf, Blicke, die töten sollten: Zur Aufrüstung des Sehens in der frühen Luftbildfotografie 15.09. – 06.10.2020 | online

SITUATION #208

I am the eye in the sky
Looking at you
I can read your mind

–The Alan Parsons Project, Eye in the Sky, 1982
Abb. 1: Tweet der Global Times vom 31.01.2020.
Anfang Februar 2020 – das Coronavirus schien noch weit entfernt – wurde in den sozialen Netzwerken ein Video der chinesischen, von der Kommunistischen Partei kontrollierten Zeitung Global Times geteilt. Zu sehen waren überraschte Menschen, die von einer Stimme aus dem Himmel dafür getadelt wurden, keine Gesichtsmaske zu tragen. Eine ältere Frau blickte etwa völlig verdutzt in die Drohnenkamera (Abb. 1), bevor sie den Anweisungen aus der Luft Folge zu leisten schien: «Ja, Tantchen, die Drohne spricht zu dir! Du solltest nicht herumlaufen, ohne eine Maske aufzuhaben. Ja, geh besser nach Hause und vergiss nicht, dir die Hände zu waschen! Du weisst, wir haben den Leuten gesagt, sie sollen daheim bleiben, aber du läufst immer noch draussen herum. Jetzt hat dich eine Drohne im Blick!» 1 «Yes, auntie, this is the drone speaking to you! You shouldn’t walk about without wearing a mask. Yes, you‘d better go back home and don’t forget to wash your hands. You see we’ve been telling people to stay at home but you still wander outside. Now a drone is watching you!» – Tweet der Global Times (31.01.2020), https://twitter.com/globaltimesnews/status/1223218977570078721?s=20 (alle URL in diesem Essay wurden zuletzt abgerufen am 15.09.2020).

Den Kommentaren des Tweets der Global Times nach zu urteilen, fühlte sich ein westliches Publikum durch das Video an Dystopien eines Überwachungsstaates wie George Orwells 1984 erinnert. In China selbst wurde es dagegen – nicht zuletzt aufgrund des spöttischen Tons der Drohnenansprachen – als ein Scherz abgetan. Tatsächlich handelte es sich bei einigen der Szenen nicht, wie man vermuten könnte, um Polizeibilder, sondern um Aufnahmen eines Bloggers, der für das chinesische Neujahrsfest in sein Heimatdorf gereist war und dort nach der quarantänebedingten Absage aller Feierlichkeiten Langeweile verspürte. Sein humorvoller, von vornherein für die sozialen Netzwerke gedachter Drohneneinsatz soll von der örtlichen Verwaltung jedoch gebilligt und gelobt worden sein. 2 Wulf Rohwedder, «Mit Drohnen gegen das Coronavirus?», Tagesschau (04.02.2020): https://www.tagesschau.de/faktenfinder/ausland/china-drohne-corona-105.html.

Nur wenige Wochen nach dem zunächst kurios wirkenden Video wurden mit Lautsprechern ausgestattete Kameradrohnen allerdings auch ausserhalb Chinas eingesetzt, um Personen auf geltende Ausgangsbeschränkungen und Abstandsregeln hinzuweisen – etwa in Frankreich, Grossbritannien, Indien, den USA und Deutschland. 3 Alex Williams, «The Drones Were Ready for This Moment», The New York Times (23.05.2020): https://www.nytimes.com/2020/05/23/style/drones-coronavirus.html; «Die Polizei mahnt von oben» (10.04.2020): https://taz.de/Drohnen-Einsatz-in-der-Coronakrise/!5677868/. Drohnen aus der Landwirtschaft desinfizierten plötzlich ganze Strassenzüge, Anbieter von Drohnenlieferungen berichteten ausserdem von einer verstärkten Nachfrage durch Personen in Selbstquarantäne. 4 Peter Lane-Taylor, «Could ‹Pandemic Drones› Help Slow Coronavirus? Probably Not – But COVID-19 Is A Boom For Business» (25.04.2020): https://www.forbes.com/sites/petertaylor/2020/04/25/could-pandemic-drones-help-slow-coronavirus-probably-not-but-covid-19-is-a-boom-for-business/#7792d84462a4. «Das ist der Moment, in dem die Drohnenindustrie zeigen kann, zu was sie in der Lage ist», zitierte die New York Times daher eine Expertin für Drohnendienstleistungen. 5 «This is the moment when the drone industry gets to show what it can do» – Williams, «The Drones Were Ready for This Moment» (siehe Anm. 3), o. S. Der Beitrag mit dem zukunftsoptimistischen Titel «Die Drohnen waren bereit für diesen Moment» argumentierte, dass die Coronakrise der Technik einen Schub geben könnte, sodass sogenannte Quadrocopter, die autonom ihr Ziel finden können, bald ein gewohnter Anblick in unseren Städten wären. 6 Ibid., o. S.

Die Kehrseite der prognostizierten Entwicklung zeigte zeitgleich ein Pilotprojekt in Westport, Connecticut, auf. Da die Stadt durch ihre Nähe zu New York als ein Hotspot für COVID-19 galt, plante die Polizei die Erprobung einer speziellen «Pandemie-Drohne», die aus 60 Metern Höhe nicht nur den Abstand zwischen Personen, sondern auch Fieber, erhöhten Herzschlag, Niesen und Husten erkennen können sollte (Abb. 2). 7 «Draganfly’s ‘Pandemic Drone’ Technology Conducts Initial Flights near New York to Detect COVID-19 Symptoms and Identify Social Distancing», Pressemitteilung des Projektpartners Draganfly (21.04.2020): https://www.globenewswire.com/news-release/2020/04/21/2019221/0/en/Draganfly-s-Pandemic-Drone-technology-Conducts-Initial-Flights-Near-New-York-City-to-Detect-COVID-19-Symptoms-and-Identify-Social-Distancing.html?fbclid=IwAR2QbpxJRAKocppLNn2yIJJW1v4H3c7xriRCDtWGVYplVgWrtf0eH_FiuFI.
Abb. 2: «Pandemic Drone» Conducts Initial Flights Near NYC to Detect COVID-19 Symptoms, Werbevideo des Unternehmens Draganfly, 21.04.2020.

Nach einem Protest der Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU) wurde schließlich auf die Testflüge verzichtet. 8 Chaim Gartenberg, «Social-distancing detecting ‹pandemic drones› dumped over privacy concerns», The Verge (23.04.2020): https://www.theverge.com/2020/4/23/21232592/connecticut-suburb-westport-pandemic-drones-draganfly-social-distancing. Eine Woche nach dem New York Times-Artikel verdeutlichte ausserdem ein Vorfall bei den «Black Lives Matter»-Protesten nach dem Tod George Floyds durch Polizeigewalt die zukünftigen Überwachungsmöglichkeiten: Eine Drohne vom Typ Predator, wie sie unter Führung der CIA ab 2004 in Pakistan zur Tötung Terrorverdächtiger eingesetzt wurden, kreiste – wenngleich unbewaffnet – am 29. Mai über den Protestierenden in Minneapolis. 9 Rebecca Heilweil, «Members of Congress want to know more about law enforcement’s surveillance of protesters», Vox (10.06.2020): https://www.vox.com/recode/2020/5/29/21274828/drone-minneapolis-protests-predator-surveillance-police. Wie sich herausstellte, war der Drohnenflug über Minneapolis kein Einzelfall. Bereits am 19. Juni 2020 berichtete die New York Times, dass die «Black Lives Matter»-Proteste auch in vierzehn weiteren Städten mit Drohnen, Flugzeugen und Helikoptern aus der Luft beobachtet worden waren: Zolan Kanno-Youngs, «U.S. Watched George Floyd Protests in 15 Cities Using Aerial Surveillance», The New York Times (19.06.2020), https://www.nytimes.com/2020/06/19/us/politics/george-floyd-protests-surveillance.html.


ÜBERKREUZUNGEN VON MILITÄRISCHER UND ZIVILER TECHNIK

Auch weil professionelle Kameradrohnen inzwischen für Privatpersonen erschwinglich geworden sind, werden die Implikationen der Luftperspektive verstärkt diskutiert. Bereits das Aufkommen digitaler Kartendienste wie Google Maps hatte nach der Jahrtausendwende jedoch ähnliche Besorgnis über Bedrohungen der Privatsphäre und der inneren Sicherheit hervorgerufen. 2012 äusserte etwa der Senator von New York, Chuck Schumer, in einem offenen Brief Bedenken gegenüber den Plänen von Apple und Google, 3D-Karten US-amerikanischer Städte herzustellen: «Im Garten hinter dem Haus zu grillen oder ein Sonnenbad zu nehmen, sollte keine öffentliche Veranstaltung sein. Die Menschen sollten sich zuhause nicht um irgendeine High-Tech-Spanner-Technologie sorgen müssen, die ihre Privatsphäre verletzt.» 10 «Barbequing or sunbathing in your backyard shouldn’t be a public event. People should be free from the worry of some high-tech peeping Tom technology violating one’s privacy when in your own home.» – Presseerklärung von Senator Chuck Schumer (18.06.2012): http://www.schumer.senate.gov/Newsroom/record.cfm?id=337036 (zuletzt abgerufen am 17.09.2012). Ein frei zugängliches, detailreiches fotografisches Kartenmaterial barg für Schumer ausserdem die Gefahr, zur Planung von Terroranschlägen missbraucht zu werden (Abb. 3). 11 Ibid.

Abb. 3: Vogelperspektive von Bing Maps auf das Empire State Building, New York.

Das Angstbild einer Drohnen-Bespitzelung aus der Luft und eines Terrorakts mithilfe der Google-Karten verweist darauf, dass die Luftansichten, an die wir uns inzwischen gewohnt haben, Verbindungen zum militärischen Bereich haben. Dort dient der Blick aus der Höhe der Informationsgewinnung über das Gelände und den Gegner. Fortschrittliche Luftbildtechnik unterlag dabei häufig der militärischen Geheimhaltung, bevor sie auch zivilen Anwendungen geöffnet wurde. Während etwa der erste zivile Erdbeobachtungssatellit Landsat 1972 startete, verfolgte die CIA bereits ab 1957 ein geheimes Satellitenprogramm, 12 Verschwörungstheoretiker_innen wird freuen, dass das Programm den Namen «Corona» trug. mit welchem die Sowjetunion ab den 1960er-Jahren mit einer Detailtreue von 0,61 Metern aus dem All fotografiert werden konnte. Die Auflösung der ersten Landsat-Aufnahmen betrug demgegenüber nur 79 Meter. 13 Keith C. Clarke, «Satellite Imagery and Map Revision», in Mark Monmonier (Hg.), The History of Cartography, Bd. 6: Cartography in the Twentieth Century (Chicago; London: The University of Chicago Press, 2015), 1294-1298; James B. Campbell und Joel Campbell, «Remote Sensing as a Cartographic Enterprise», ibid., 1298–1304. Erst Google Maps machte die Höhenperspektive im 21. Jahrhundert schliesslich auch für Privatpersonen verfügbar. Luftansichten bilden seitdem zwar einen elementaren Bestandteil unserer räumlichen Wahrnehmung und Orientierung; folgt man einem bekannten Satz des Medientheoretikers Friedrich Kittler, so liesse sich unsere tägliche Nutzung von Luftbildern jedoch aufgrund der Herkunft der Technik auch als «Mißbrauch von Heeresgerät» auffassen. 14 Friedrich Kittler, Grammophon Film Typewriter (Berlin: Brinkmann & Bose, 1986), 149.

Eine historisch differenzierte Betrachtung zeigt allerdings, dass die Grenzen zwischen ziviler und militärischer Technik häufig fliessend sind. So verwendete der US-amerikanische Nachrichtensender CNN 2003 im Irakkrieg eine neuartige Software namens EarthViewer, mit der im Stil eines Flugsimulators dramatisch aus der Luft auf die aktuellen Kriegsschauplätze gezoomt werden konnte (Abb. 4).


Abb. 4.: Werbevideo auf der Webseite des Unternehmens Keyhole für seinen Dienst EarthViewer, 09.07.2003.
Das Start-up-Unternehmen hinter der Anwendung – Keyhole, Inc. – bot zu diesem Zeitpunkt auch schon Privatpersonen Jahresabos für seinen Dienst an. «Sie können das Zeug nehmen, mit dem Generale Kriege planen und damit ihre Mountainbike-Tour vorbereiten», warb Keyholes Gründer und CEO John Hanke für die Anwendung. 15 «You [can] take that stuff generals use to plan wars and plan your mountain-biking trip […]» – Reed Fujii, «Virtual Flights Possible with Internet Technology, Aerial Imaging», in The Record (14.04.2003), zit. nach Roger Stahl, Through the Crosshairs: War, Visual Culture, and the Weaponized Gaze (New Brunswick et al.: Rutgers University Press, 2018), 60. Tatsächlich begann 2003 auch In-Q-Tel, eine Wagniskapitalgesellschaft der CIA, in Keyhole zu investieren – und bereits wenig später setzte das US-amerikanische Militär die Technologie für den Bodenkrieg im Irak ein. 16 Ibid., 60–61. 2004 kaufte schliesslich Google das Unternehmen, um auf technischer Grundlage des EarthViewers ein Jahr später die Dienste Google Maps und Google Earth vorzustellen. 17 Ibid., S. 64–66. Vgl. ausserdem: Randall Stross, Planet Google. One Company’s Audicious Plan to Organize Everything We Know (New York et al.: Free Press, 2009), 129–152.

Da der Beginn einer systematischen Luftaufklärung allgemein mit dem Ersten Weltkrieg verbunden wird, 18 Vgl. Carl Fink, «Die Entwicklung des militärischen deutschen Luftbildwesens 1911–1918 und seine militärische wie kulturelle Bedeutung», in Wehrwissenschaftliche Rundschau, Nr. 10 (1960), 390–399; Bernhard Siegert, «Luftwaffe Fotografie. Luftkrieg als Bildverarbeitungssystem 1911–1921», in Fotogeschichte, 12. Jg., Nr. 45/46 (1992), 41–54; Helmut Jäger, Erkundung mit der Kamera. Die Entwicklung der Photographie zur Waffe und ihr Einsatz im 1. Weltkrieg (München: Venorion VKA, 2014); Manuel Köppen, «Das Luftbild im Ersten Weltkrieg. Anfänge und Auswirkungen», in Hermann Nöhring (Hg.), BilderSchlachten. 2000 Jahre Nachrichten aus dem Krieg. Technik – Medien – Kunst (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009), 236–245; zur Entwicklung der Kriegsfotografie allgemein: Gerhard Paul, Bilder des Krieges – Krieg der Bilder (Paderborn: Schöningh, 2004). sind frühere Ansätze, Luftbilder für Kriegszwecke nutzbar zu machen oder sie als Karten zu verwenden, bislang kaum beachtet worden. Noch in den heutigen digitalen Karten lassen sich jedoch Konstruktionsprinzipien und Bildstrategien aufzeigen, die bereits die ersten prototypischen Entwürfe für eine fotografische Karte zu Beginn des 20. Jahrhunderts auszeichneten. 19 Zu den aktuellen Techniken digitalen Kartierens vgl. die Beiträge der Sektion «Technologies of Mapping» in Martin Dodge, Rob Kitchin und C.R. Perkins (Hg.), The Map Reader. Theories of Mapping Practice and Cartographic Representation (Chichester: Wiley-Blackwell, 2011), 115–192. Sowohl für ein Verständnis der digitalen Kartierungstechniken der Gegenwart als auch der sich momentan rasant entwickelnden Drohnentechnik scheint es deshalb unumgänglich, sich auch mit den historischen Anfängen der Luftbildfotografie auseinanderzusetzen. Während wir inzwischen recht genaue Vorstellungen davon haben, was mit Luftbildmaterial möglich ist, war damals noch keineswegs klar, wofür es sich eignet und auf welche Weise es nutzbar gemacht werden kann. Im Sinne einer Genealogie des militärischen Blicks sollen daher im Folgenden die ersten Konzeptualisierungen einer Fotografie aus der Luft beleuchtet werden. Gezeigt werden kann, dass von der neuen Perspektive von Beginn an auch eine Steigerung der militärischen Fähigkeiten erwartet wurde.

BEOBACHTEN UND VERMESSEN

In seinen um 1900 erschienenen Lebenserinnerungen Quand j’étais photographe schildert der französische Fotopionier Gaspar-Félix Tournachon, besser bekannt unter dem Pseudonym Nadar, wie ihm im Herbst 1858 bei Petit-Bicêtre – heute ein Teil der Stadt Clamart – die erste Luftaufnahme in der Geschichte der Fotografie gelang. 20 Nadar, Als ich Photograph war (Frauenfeld: Huber, 1978). Frz. Originalausgabe: Nadar, Quand j’étais photographe (Paris: Ernest Flammarion, um 1900). Nadars Ausführungen finden sich in grossen Teilen wortgleich auch schon in seiner früheren Veröffentlichung À terre et en l’air… Mémoires du Géant (Paris: E. Dentu, 1864), besonders 51–63. Der berühmte Fotograf der Pariser Gesellschaft, der zugleich ein begeisterter Ballonfahrer war (Abb. 5), verwies dabei auch auf die militärischen Möglichkeiten einer Fotografie aus der Luft: «Jeder weiß, welch strategischer Glücksfall es für einen kriegführenden General bedeutet, wenn er auf einen Dorfkirchturm stößt, von dessen Höhe aus ein Stabsoffizier seine Beobachtungen anstellen kann. Nun, ich führe meinen Kirchturm mit mir herum, und meine Linse kann endlos hintereinander Diapositive verfertigen, die ich von meiner Gondel auf die einfachste Art unmittelbar dem Hauptquartier zukommen lasse; dazu genügt eine kleine Schachtel, die an einem Seil zu Boden gelassen wird und mir nach Bedarf Instruktionen zurückbringt.» 21 Nadar, Als ich Photograph war (siehe Anm. 20), 70. Nadar entwarf im Weiteren ein Szenario, in welchem seine Ballonaufnahmen einem Heeresführer fast in Echtzeit Informationen über den Kriegsverlauf gaben: «Die Bilder, die mittels eines Projektionsapparates unverzüglich unter den Augen des Generalstabschefs vergrößert werden, vermitteln ihm den Überblick über sein ganzes Schachbrett und bringen ihm die kleinsten Änderungen, die sich im Lauf der Aktion ergeben zur Kenntnis, was ihm natürlich gewaltige Vorteile sichert.» 22 Ibid. Mit der Projektion der fotografischen Platten führte Nadar darüber hinaus eine neuartige, immersive Form der Einsatzbesprechung an – ein Verfahren, das im Ersten Weltkrieg tatsächlich zur Analyse von Luftaufnahmen angewendet werden sollte. 23 Bildmeldung der Luftschiffer (B. d. L.), Entwurf, Der Kommandierende General der Luftstreitkräfte, Nr. 2000/17 Lb., Nr. 62 (Charleville, 1917), Das Lesen und Erkunden der Fesselballonaufnahmen, 4; Fink, «Die Entwicklung des militärischen deutschen Luftbildwesens 1911–1918 und seine militärische wie kulturelle Bedeutung» (siehe Anm. 18), 396.

Abb. 5: Nadar im Ballonkorb, Aufnahme des Ateliers Nadar, 1875–1895, Albuminpapier, 14,5 x 10,5 cm, © Bibliothèque nationale de France, département Estampes et photographie.

Ein Jahr, nachdem ihm die erste Fotografie aus einem Ballon geglückt war, erhielt Nadar das Angebot, im Sardinischen Krieg auf Seiten Frankreichs die gegnerischen Bewegungen zu beobachten. Bei seiner Vorbereitung gelang ihm allerdings keine einzige weitere Fotografie aus der Luft, weswegen er nach eigener Aussage seinen Vorschuss der französischen Regierung zurückgab. 24 Nadar, À terre et en l’air… Mémoires du Géant (siehe Anm. 20), 74. Blosse Theorie blieb zunächst auch sein Vorschlag, aus senkrechten Luftaufnahmen Karten abzuleiten, so suggestiv er die Vorgehensweise in seinen Memoiren auch schildern mochte: «Das gewaltige Werk des Grundbuchs mit seiner Armee von Ingenieuren, Feldmessern, Zeichnern und Rechnern, sagte ich mir, hat uns mehr als eine Milliarde Francs und ein halbes Jahrhundert Arbeit gekostet und ist im Grunde schlecht gemacht. Heute könnte ich in dreißig Tagen die Vermessung ganz allein fertigbringen, und zwar ohne Fehl und Tadel. Ein guter Fesselballon und ein guter Photoapparat – das wäre meine ganze Ausrüstung.» 25 Nadar, Als ich Photograph war, 71. Nadar, der sich selbst eine «angeborene, absolute Sturheit gegen alles, was exakte Wissenschaft ist» 26 Ibid., 84. bescheinigte, ging davon aus, dass sich «irgendwelche Verzerrungen» auf den Ballonaufnahmen durch «irgendeine mathematische Formel» schon würden bereinigen lassen. 27 Ibid., 73. Aimé Laussedat, einer der Begründer der sogenannten Photogrammetrie – eine Technik, die der Ausnutzung der Fotografie für Messaufgaben dient – sollte ihm jedoch die Schwierigkeiten einer Kartierung aus der Luft auseinandersetzen. 28 Ibid., 84.

Dennoch umriss Nadar darüber die beiden Einsatzgebiete, welche die Entwicklung der Luftbildfotografie im 20. Jahrhundert technisch befördern sollten: die Herstellung von Karten sowie die militärische Luftaufklärung. Beide Verwendungsweisen hingen davon ab, das auf Luftaufnahmen dargestellte Gelände auch ausmessen zu können. Auf den Fotos identifizierte gegnerische Stellungen unter Beschuss zu nehmen war etwa nur möglich, wenn deren Positionen genau bestimmt und die Luftbilder mit Karten abgeglichen werden konnten (Abb. 6).

Abb. 6: Artilleriekarte aus Fliegerbildern, aus Anleitung für den Beobachtungsoffizier im Flugzeug (A. B. O.), Entwurf (Berlin, 1916), 10.

Dass Aufklärung und Vermessung in der luftbildfotografischen Pionierzeit zunächst zusammengedacht wurden, verdeutlicht auch eine Aussage des Geodäten Max Gassers, der in Vermessungsluftschiffen «für den betreffenden Staat eine wunderbare Waffe in Kriegszeiten» sah. Beobachten und Vermessen wurden von ihm in eins gesetzt: «Ja, nicht einmal eine Ummontierung ist notwendig. Wie es ist, kann es verwendet werden, da die Vermessungsausrüstung mit ihren feinen Kameras […] die besten Beobachtungsaufnahmen liefert.» 29 Max Gasser, «Studien zu einer aerogeodätischen Landesaufnahme [Schluß]. Vortrag gehalten auf dem deutschen Geometertage zu Strassburg 1912 von Dr. Max Gasser, Dozent für Geodäsie, Darmstadt», in Zeitschrift des Vereins der Höheren Bayerischen Vermessungsbeamten, Nr. 17 (1913), 2–17: 16.

PROTOTYPISCHE LUFTBILDKAMERAS IM 19. JAHRHUNDERT

Da vor dem Aufkommen von Luftschiffen und Flugzeugen vor allem mit Fesselballons, Freiballons oder Drachen fotografiert wurde – also Fluggeräten, die starr in der Luft standen oder deren Flugrichtung nur begrenzt beeinflussbar war – bestand der Wunsch, von einer Position aus gleich mehrere Bilder aufzunehmen, um ein grösseres Gebiet festzuhalten. 30 Willi Sander, «Über die Entwicklung der Photogrammetrie an Hand der Erfindungen unter besonderer Berücksichtigung der Doppelbild-Auswertungsgeräte», in Otto von Gruber (Hg.), Ferienkurs Photogrammetrie. Eine Sammlung von Vorträgen und Aufsätzen (Stuttgart: Verlag von Konrad Wittwer, 1930), 173–289: 272; Reinhard Hugershoff, Photogrammetrie und Luftbildwesen (Wien: Verlag Julius von Springer, 1930), 148. Dies führte früh zur Entwicklung von Panoramenapparaten, mit denen entweder von einem Gelände mehrere aufeinanderfolgende Aufnahmen geschossen werden konnten oder aber, durch in verschiedene Richtungen ausgerichtete Objektive, mit einer Aufnahme gleich mehrere Fotografien. Den ersten als Panoramakamera zu bezeichnenden Apparat entwickelte 1881 Walter Bentley Woodbury, der Erfinder der Woodburytypie. 31 Stein und Newhall geben bei ihren Beschreibungen des Geräts das Baujahr mit 1877 an, was aber laut Sander das Jahr einer Patentanmeldung Woodburys darstellt. Siegmund Theodor Stein, Das Licht im Dienste wissenschaftlicher Forschung. Handbuch der Anwendung des Lichtes und der Photographie in der Natur- und Heilkunde, in den graphischen Künsten und dem Baufache, im Kriegswesen und bei der Gerichtspflege, 2. gänzlich umgearb. und verm. Auflage, Bd. 2 (Halle a. S.: Wilhelm Knapp, 1888), 226; Beaumont Newhall, Airborne Camera. The World from the Air and Outer Space (New York: Hastings House, 1969), 34; Willi Sander, «Über die Entwicklung der Photogrammetrie an Hand der Erfindungen […]» (siehe Anm. 30), 282. Das vom Boden aus gesteuerte Gerät war für einen unbemannten Fesselballon gedacht und griff damit auf die Automatisierung der Luftbildfotografie voraus, die schliesslich zu den heutigen Satelliten- und Drohnenaufnahmen führen sollte.

Woodbury montierte vier fotografische Platten auf eine prismenförmige Trommel, die über eine mit der Halteleine des Ballons verlaufende Leitung für eine neue Aufnahme elektrisch gedreht werden konnte. Durch den mechanisierten Plattenwechsel war es möglich, mehrere Abschnitte eines Gebiets nacheinander abzulichten. 32 Newhall, Airborne Camera (siehe Anm. 31), 34–35; Eduard Doležal, «Über photographische Ballonaufnahmen und ihre Verwendung. Vortrag, gehalten den 12. Januar 1910», in Schriften des Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse Wien, 50. Jg., Nr. 13 (Wien: Verlag der Zoologisch-Botanischen Gesellschaft in Österreich, 1910), 335–370: 345; Sander, «Über die Entwicklung der Photogrammetrie an Hand der Erfindungen […]» (siehe Anm. 30), 272. In einem Patent von 1877 dachte Woodbury für seine Ballonkamera auch bereits die Verwendung von Rollfilm an, 33 Ibid., 282. der damals allerdings noch aus beschichtetem Papier bestand. 34 Newhall, Airborne Camera (siehe Anm. 31), 35. Damit nahm er das Funktionsprinzip des Reihenbildners vorweg, das heisst jener im Ersten Weltkrieg eingesetzten Flugzeugkameras, mit denen durch eine Nutzung von Film statt fotografischer Platten grosse Geländeabschnitte in einem Zug aufgenommen werden konnten (Abb. 7). 35 Franz Manek, «Die Luftaufnahmegeräte von Oskar Messter. Rückblick anläßlich seines 75. Geburtstags», in Luftwissen, 8. Jg., Nr. 11 (1941), 348–351; Wolfgang Mühl-Benninghaus, «Oskar Messters Beitrag zum Ersten Weltkrieg», in KINtop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films, Nr. 3 (1994), 103–115.

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Abb. 7: Reihenbild im Massstab 1:25'000, aus Bildmeldung der Luftschiffer (B.d.L.), Entwurf, gedruckt in 1'000 Exemplaren (Charleville, 1917), Teil B: Die Fesselballonaufnahme und die Anforderungen an die Bildmeldungen, 5 © Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv.

Als Prototyp der zweiten Art von Panoramenkameras, den sogenannten Mehrfachkammern, kann Louis Triboulets Apparat aus dem Jahr 1884 gelten. Auch dieses Gerät war für unbemannte Fesselballons vorgesehen. Triboulets System bestand aus sieben Kameras, wobei die Mittelkamera senkrecht nach unten gerichtet war, die sechs anderen nach aussen (Abb. 8). Die Geräte befanden sich in einem sechseckigen Kasten, der in einen angepassten Weidenkorb gelegt wurde, welcher sich wiederum durch eine Kardanaufhängung unter dem Ballonkorb senkrecht ausbalanciert fand. Die miteinander verbundenen Kameraverschlüsse wurden vom Boden aus gleichzeitig ausgelöst, sodass mit jeder Aufnahme eine Rundumansicht des Geländes festgehalten wurde.

Abb. 8: Triboulets Panoramenapparat aus dem Jahr 1884, aus Theodor Scheimpflug, «Ballonphotographie», in Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Aufl., 23. Band (Leipzig; Wien: Bibliographisches Institut, 1912), 68–73: 69.

Bereits 1882 bat die Académie d’aérostation météorologique – eine Gesellschaft zur Erforschung der Atmosphäre mithilfe von Ballons, deren Mitglied Triboulet war – den Stadtrat von Paris um einen Zuschuss von 1’000 Francs zur Finanzierung von Versuchen mit dem Apparat. 36 De Bouteiller, Rapport, Présenté par M. de Bouteiller, au nom de la 5e Commission (1), sur une demande introduite par « l’Académie d’aérostation météorologique », en vue d’obtenir une subvention de 1000 francs, destinée à l’exécution d’un levé topographique de Paris au moyen de photographies prises dans des ballons captifs. Annexe au procès-verbal de la séance du 26 juin 1882, Bibliothèque nationale de France, online einsehbar: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6427620q, 2. Versprochen wurde nicht weniger, als dass man «in kurzer Zeit einen topografischen Plan von Paris» werde liefern können, 37 Ibid., 6. ein «vollständiges Kataster der Hauptstadt». 38 Ibid., 3. Die Panoramaaufnahmen wurden von den Antragsstellenden jedoch nicht nur in den Kategorien der Kartografie, sondern auch jenen der Grafik aufgefasst: und zwar als anschauliche Vogelperspektiven, die zusätzlich zum topografischen Plan das Erscheinungsbild der Stadtlandschaft vermittelten. Triboulets Verfahren erlaube nicht nur «erhebliche Einsparungen bei der Ausführung einer Liegenschaftskarte […]; es würde darüber hinaus ein vollständiges und unzerstörbares Panoramengemälde des gegenwärtigen Zustands von Paris zur Verfügung stellen.» 39 «Il permettrait de réaliser des économies considérables pour l’exécution d’un plan cadastral; il présenterait en outre un tableau panoramique complet et indestructible de l’état actuel de Paris.» – Ibid., 6.

Ihre Bitte an den Pariser Stadtrat begründete die Gesellschaft nicht zuletzt mit dem militärischen Nutzen von Triboulets Erfindung: «Man versteht, was das Interesse wäre, das sich mit Operationen dieser Art verbinden würde, ausgeführt im Feld, mit einem Ballon, im Gefolge der französischen Armeen. Die Ergebnisse könnten sehr schnell erhalten, in das Hauptquartier getragen und einer mikroskopischen Studie unterworfen werden, um die Position des Feindes zu bestimmen.» 40 «On comprend quel serait l’intérêt qui s’attacherait à des opérations de cette nature, exécutées en campagne, par un ballon, à la suite des armées françaises. Les résultats pourraient être obtenus très rapidement, portés au quartier général et sommis [sic!] à une étude micrographique pour déterminer la position de l’ennemi.» – Ibid., 4. Die Antragsstellenden übernahmen somit fast wortgleich Nadars Argumentation, die dieser vor seinen Memoiren auch schon 1864 in seinem Buch À terre et en l’air… Mémoires du Géant publiziert hatte. 41 Nadar, À terre et en l’air… Mémoires du Géant, (Paris: E. Dentu, 1864), 42–43.

Abb. 9: Ballonapparat für militärische Recognoszierungszwecke, aus Theodor Scheimpflug, «Ballonphotographie», in Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Aufl., 23. Band (Leipzig; Wien: Bibliographisches Institut, 1912), 68–73: 69.

Für militärische Einsätze geeignet war jedoch insbesondere die dritte Art von Ballonkameras jener Jahrzehnte: Geräte mit sehr grossen Brennweiten, die dadurch für Fernaufnahmen optimiert waren (Abb. 9). Bei einer Ballonfahrt über Paris führten der Chemiker und Meteorologe Gaston Tissandier und der Fotograf Jacques Ducom am 19. Juni 1885 etwa eine Kammer mit einer Brennweite von 56 Zentimetern mit. 42 Teodor J. Blachut, «Die Frühzeit der Photogrammetrie (bis zur Erfindung des Flugzeugs)», in Nachrichten aus dem Karten- und Vermessungswesen, Sonderheft Geschichte der Photogrammetrie, Bd. 1 (Frankfurt a. M.: Verlag des Instituts für angewandte Geodäsie, 1988), 17–62: 30. Zwei oder drei der Fahrtbilder überragten nach Tissandiers Meinung an Schärfe alles, was zuvor an Luftaufnahmen zustande gebracht worden war. 43 Gaston Tissandier, «La photographie en ballon», in La Nature, Nr. 651 (04.07.1885), 65–68: 66. Besonders würdigte er jedoch den Abzug einer Aufnahme aus 605 Metern Höhe der Île Saint-Louis, «der von einer Klarheit ist, die absolut nichts zu wünschen übrig lässt […]». 44 «Le cliché dont nous parlons a été fait au-dessus de Paris, à 605 mètres d’altitude; il est d’une netteté qui ne laisse absolument rien à désirer […]» – Ibid., 65. Sowohl in Tissandiers Bericht über die Fahrt in der Zeitschrift La Nature wie auch in seinem 1886 veröffentlichtem Buch La photographie en ballon war diesem Luftbild zum Vergleich eine Karte beigegeben, sodass sich das Publikum selbst von der topografischen Genauigkeit der erzielten Aufnahme überzeugen konnte (Abb. 10 u. Abb. 11).

Abb. 10: Gaston Tissandier, Ballonaufnahme der Île Saint-Louis, 1885, aus ders., La Photographie en ballon (Paris: Gauthier-Villars, 1886).

Abb. 11: Der dem Luftbild vorangestellte Plan. Auf diese Weise wurde anschaulich die Übereinstimmung von Fotografie und Karte demonstriert.

In seinem Fahrtbericht führte Tissandier aus, dass man auf ebendiesem Foto mit einer Lupe noch unerwartete Details entdecken könne: etwa eine Seilrolle auf dem Schiff, Menschen auf dem Kai oder Kamine auf den Dächern. 45 Tissandier, «La photographie en ballon», 66; id., La photographie en ballon, 33. Zum Verhältnis von Lupe und Fotografie vgl. Jan von Brevern, «Das Instrument der Entdeckung», in Herta Wolf (Hg.), Zeigen und/oder Beweisen? Die Fotografie als Kulturtechnik und Medium des Wissens (Berlin; Boston: De Gruyter, 2016), 267–281. Eine solche Untersuchung mit sogenannten Lesegläsern sollte im Ersten Weltkrieg zur Standardmethode der Bildauswertung werden. Aufgrund der Schärfe und Klarheit der von ihm präsentierten Fotografien schlug Tissandier vor, seine Technik der Luftbildfotografie auch dem Militär nutzbar zu machen, denn in «einer Höhe von 600 Metern hat ein Ballon von den Feuern der Artillerie nichts zu befürchten, und der Fotograf in der Gondel kann genauso sicher wie in seinem Atelier operieren.» 46 «À l’altitude de 600 mètres, un ballon n’a rien à craindre des feux de l’artillerie, et le photographe dans la nacelle peut opérer aussi sûrement que dans son atelier.» – Tissandier, «La photographie en ballon» (siehe Anm. 43), 67. Damit unterschätzte er allerdings die zukünftige Reichweite der Geschütze, deren Entwicklung ebenfalls nicht stillstand – und auch mit Maschinengewehren ausgerüstete Jagdflugzeuge waren um 1885 wohl noch kaum vorstellbar. Im Wettlauf von Foto- und Waffentechnik wurden im Ersten Weltkrieg immer grössere Brennweiten eingesetzt, um auch aus grösster Höhe noch detailreiche Aufnahmen zu erhalten (Abb. 12).

Abb. 12: Die Kammer und ihre Haltung, aus Bildmeldung der Luftschiffer (B.d.L.), Entwurf, gedruckt in 1'000 Exemplaren (Charleville, 1917), Teil A: Ausbildung des Beobachters, o. S. © Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv.

DER EINSATZ VON DRACHEN ZUR MILITÄRISCHEN AUFKLÄRUNG

Bereits 1923 wurde in einem Luftfahrt-Handbuch konstatiert, das Flugzeug biete der Luftbildfotografie „durch seine Beweglichkeit, Schnelligkeit und Lenkbarkeit zu bedeutende Vorteile, als daß der Ballon ihm gegenüber noch in Frage kommt.“ 47 Reinhard Süring und Kurt Wegener (Hg.), Moedebecks Taschenbuch zum praktischen Gebrauch für Flugtechniker und Luftschiffer, 4. Aufl. (Berlin: Krayn, 1923), 241. Die Luftaufklärung des Ersten Weltkriegs hatte zu einem technischen Sprung geführt. Neben Ballons war vor 1914 jedoch auch noch mit anderen Flugmitteln experimentiert worden – etwa mit Raketen und Brieftauben, 48 Matthias Knopp, «Die Fotorakete von Alfred Maul», in Ulf Hashagen, Oskar Blumtritt und Helmut Trischler (Hg.), Circa 1903. Artefakte in der Gründungszeit des Deutschen Museums (München: Deutsches Museum, 2003), 450-472; Franziska Brons, «Bilder im Fluge: Julius Neubronners Brieftaubenfotografie», in Fotogeschichte, 26. Jg., Nr. 100 (2006), 17–36. insbesondere aber mit Drachen. Diese kamen in Beschaffung und Unterhalt weit günstiger als ein Gasballon und waren bei Beschädigungen leicht auszubessern. Zudem konnten Drachen auch aufsteigen, wenn der Wind für einen Ballon bereits zu stark war. 49 Baden Fletcher Smyth Baden-Powell, «Kite-Flying”, in Encyclopedia Britannica, 11. Ausgabe, 15. Bd. (Cambridge: Cambridge University Press, 1911), 839–840: 840. Während bei meteorologischen Experimenten mit Drachen Messinstrumente wie Barometer oder Thermometer in höhere Luftschichten gebracht wurden, lag das Interesse des Militärs darin, Kameras oder sogar Soldaten in die Luft zu heben.

Arthur Batut, der als Privatgelehrter zuvor bereits mit einer Chronofotografie von Pferden sowie Kompositporträts in der Art Francis Galtons experimentiert hatte, 50 Arthur Batut, La photographie appliquée à la production du type d’une famille, d’une tribu ou d’une race (Paris: Gauthier-Villars, 1887). gelang im Mai 1888 die erste – wenn auch noch verschwommene – Drachenfotografie, wobei er seinen Wohnort, das südfranzösische Städtchen Labruguière, aufnahm. 51 Serge Negre, «Arthur Batut – Photographie – 1846–1918», in Photoresearcher, 2. Jg., Nr. 3 (1991), 20–23: 22. Vor allem durch eine Verringerung der Verschlusszeit konnte er bereits wenige Monate später überzeugende Luftbilder vorweisen. 52 Ibid. Nicht zuletzt durch Tissandiers Ballonaufnahmen hielt es Batut für hinreichend bewiesen, dass ausgezeichnete Luftbilder technisch möglich waren: «Aber damit eine Entdeckung wirklich nützlich wird, damit sie alle ihre Früchte trägt, muss sie in die Hände aller gelegt werden.» 53 «Mais pour qu’une découverte soit vraiment utile, pour qu’elle porte tous ses fruits, il faut qu’elle puisse être mise entre les mains de tous.» – Arthur Batut, La photographie aérienne par cerf-volant (Paris: Gauthier-Villars et fils, 1890), 2. Mit dem vergleichsweise günstigen Flugmittel des Drachens verfolgte er daher eine Demokratisierung der Luftperspektive. Dank stereoskopischer Drachenfotografien, die ein dreidimensionales Bild der Landschaft vermitteln, werde in Zukunft «jeder sich die Illusion eines gefährlichen Aufstiegs erlauben und die Welt von oben betrachten können, ohne irgendein Risiko einzugehen.» 54 «Enfin, grâce aux épreuves stéréoscopiques, qu’il est aussi facile d’obtenir avec le cerf-volant que des vues ordinaires, chacun pourra se donner l’illusion d’une ascension périlleuse et contempler le monde de haut sans courir aucun risque.» – Ibid., 63.

Batuts Vision, die Luftbildfotografie in die Hände der Massen zu legen, sollte erst im 21. Jahrhundert mit der Drohnenfotografie Aussicht auf Verwirklichung finden. Bereits 1890 ersann der Autodidakt für einen unbemannten, mit einer Kamera ausgestatteten Flugapparat jedoch eine Vielzahl an Verwendungsmöglichkeiten, die von der Landesvermessung über die Erforschung unzugänglicher Gebiete bis hin zur Landwirtschaft reichten. Aufgrund des geringen Gewichts der Technik imaginierte Batut ausserdem, dass jeder militärische Truppenteil für Aufklärungszwecke eine Ausrüstung zur Drachenfotografie mit sich führen könnte. 55 Ibid., 62–64.

Abb. 13: Von Scheimpflug für die Aerophotogrammetrie verwendete Drachen-Typen, aus Theodor Scheimpflug, «Über österreichische Versuche, Drachenphotogramme kartographisch auszuwerten, und deren bisherigen Resultate», in Photographische Korrespondenz, 40. Jg., Nr. 11 (1903), 659–670: 662 © ANNO/Österreichische Nationalbibliothek.

Laut Theodor Scheimpflug, einem ehemaligen k. u. k. Hauptmann, der nach der Jahrhundertwende selbst mit Drachenaufnahmen experimentierte (Abb. 13), führten die «militärischen Bestrebungen, die Drachen den Zwecken der Rekognoszierung dienstbar zu machen, […] von selbst zu Versuchen, Menschen mit Drachen zu heben.» 56 Theodor Scheimpflug, «Über die Verwendung von Drachen zu praktischen Zwecken», in Hermann Hoernes (Hg.), Buch des Fluges, Bd. 1 (Wien: Verlag Georg Szelinski, 1911), 598–603: 600. Zu den ersten Versuchen, mit Drachen Menschen zu heben vgl. Joseph Lecornu, Les cerfs-volants (Paris: Librarie Nony & Cie., 1902), 123–140. Auch Scheimpflug veröffentlichte im Jahr 1904 detaillierte Berechnungen, wie eine Person in die Luft gebracht werden könnte: «Der Mann sitzt dabei im Innern des Drachens in einem gefederten Korb, ist also selbst bei einem eventuellen Sturz nicht allzu gefährdet, da Drachen beinahe nie so schwer fallen, daß sie ganz zerbrechen.» 57 Vgl. die Abschnitte «Die beim Heben von Menschen mit Drachen in Betracht kommenden Kraft- und Größenverhältnisse» und «Die Handhabung der Drachen» von Scheimpflugs Aufsatz «Über Drachenverwendung zur See», in Mitteilungen aus dem Gebiet des Seewesens, 32 Jg., Nr. 4 u. Nr. 5 (1904), 305–317 u. 396–431: 407–429: 423. Grössere Bekanntheit erlangten jedoch die Drachenversuche des britischen Offiziers Baden Fletcher Smyth Baden-Powell, einem Bruder des späteren Begründers der Pfadfinderbewegung Robert Baden-Powell, 58 Baden Fletcher Smyth Baden-Powell, «Kites. Their theory and Practice», in Aeronautical Journal, 2. Jg., Nr. 6 (1898), 33–45; ders., «War Kites», in Aeronautical Journal, 3. Jg., Nr. 9 (1899), 1–6; ders., «Kite-Flying» (siehe Anm. 49), 840. sowie des US-Amerikaners Samuel Franklin Cody.

Cody, der den Nachnamen seinem Vorbild Buffalo Bill – William Frederick Cody – entliehen hatte, war 1888 mit einer Wild-West-Show nach England gekommen. 59 G. A. Broomfield, «S. F. Cody. A Personal Reminiscence», in Flight, 73. Jg., Nr. 2573 (16.05.1958), 690–691: 690. Broomfield war Mechaniker von Cody und mit dem Buch Pioneer of the Air (Aldershot: Gale & Polden, 1953), sein erster Biograf. Als Zeitzeuge ist er dennoch kritisch zu betrachten, da er Testflüge von Cody um einige Monate vordatierte, um ihm den Prioritätsanspruch auf den ersten englischen Motorflug vor Alliott Verdon Roe zuzuschreiben. Vgl. etwa Charles H. Gibbs-Smith, «S. F. Cody: An Historian’s Comments», in Flight, 73. Jg., Nr. 2574 (23.05.1958), 699. Während Baden-Powell seine Experimente mit bemannten Drachen in den 1890er-Jahren als Offizier im Dienst der Armee unternahm, versuchte Cody, der Buffalo Bill zum Verwechseln ähnlich sah und als exzentrischer Showman galt, seine Drachenkonstruktion gezielt dem Militär anzudienen. Zunächst abgewiesen, demonstrierte er sein System 1903 der britischen Navy in Portsmouth, wobei er sich unter dem Drachen hängend in 240 Meter Höhe über die Flotte ziehen liess, aus der Luft fotografierte und die Resultate von Gewehrschüssen mitteilte. 60 Broomfield, «S. F. Cody. A Personal Reminiscence» (siehe Anm. 59), 690. Nach einer weiteren Demonstration im darauffolgenden Jahr vereinbarten die britischen Streitkräfte tatsächlich eine Zusammenarbeit mit dem eigenwilligen Erfinder (Abb. 14). Als «Cody War-Kite» gehörte sein System, einen Soldaten als Beobachter aufsteigen zu lassen, bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg zum militärischen Arsenal des Vereinigten Königreichs (Abb. 15). 61 «Kiting»: https://www.rafmuseum.org.uk/research/online-exhibitions/rfc_centenary/british-military-aviation-1862-1912/Kiting.aspx.
Abb. 14: Samuel Franklin Cody demonstriert der Royal Navy seinen Drachen, 1908 © Imperial War Museum, London.

Abb. 15: Demonstration eines Drachens von Cody für zwei Soldaten, vor 1914 © Imperial War Museum, London.

Alle früheren Versuche zur Drachenfotografie wurden jedoch übertroffen von George R. Lawrence, der bis zu siebzehn Conyne-Drachen hintereinanderschaltete, um seine schweren, grossformatigen Plattenkameras in die Luft zu heben. Der enorme Zug eines solchen Drachengespanns erforderte es, dass die Winde am Boden verankert und von zwei Personen bedient wurde. Lawrences Panoramenapparat hing unterhalb des letzten Drachens und war zur Stabilisierung im Wind mit drei spinnenbeinartigen Stäben ausbalanciert, an deren Enden Bleigewichte angebracht waren (Abb. 16). Die Aufnahmen wurden über ein in die Drachenleine integriertes Kabel elektrisch vom Boden aus ausgelöst. Ein kleiner abgeworfener Fallschirm signalisierte, dass das Bild fertig war. 62 Simon Baker, «San Francisco in Ruins. The 1906 Aerial Photographs of George R. Lawrence», in Landscape, 30. Jg., Nr. 2 (1989), auch online: http://robroy.dyndns.info/lawrence/landscape.html; Janice Petterchak, «Photography Genius: George R. Lawrence & ‹The Hitherto Impossible›», in Journal of the Illinois State Historical Society, 95. Jg., Nr. 2 (2002), 132–147: 139–143.

Abb. 16: Lawrences unterhalb der Drachen hängender Panoramenapparat. Drei mit Blei beschwerte Stäbe balancierten die Kamera bei der Aufnahme aus, um 1905, 25,4 x 20,32 cm © Chicago History Museum.

1905 wurde Lawrence auf Veranlassung von Präsident Roosevelt von der U.S. Army und der Navy zu einer Demonstration seiner Drachenfotografie eingeladen. 63 Ibid., 141. 1906 fotografierte er einige Wochen nach dem grossen Erdbeben und den darauffolgenden Bränden das zerstörte San Francisco (Abb. 17). Für die Aufnahme aus 600 Metern Höhe verwendete er einen 22 Kilogramm schweren Panoramenapparat mit einer etwa 1,2 Meter breiten Filmplatte. 64 Baker, «San Francisco in Ruins» (siehe Anm. 62), o. S. Nach der aufsehenerregenden Fotografie erfolgte 1907 eine weitere Manövereinladung, um die Tauglichkeit seines «Captive Airship» genannten Systems für militärische Zwecke zu testen. 65 Petterchak, «Photography Genius» (siehe Anm. 62), 143.

Abb. 17: George R. Lawrence, Drachenaufnahme des vom grossen Erdbeben zerstörten San Francisco, 1906, Silbergelatine, 45,7 x 121,9 cm © Library of Congress, Washington, D.C.

DIE ERSTEN FOTOKARTEN ALS BEGINN DER FERNERKUNDUNG

Unter dem Begriff der Photogrammetrie wurde ab den späten 1850er-Jahren an Verfahren gearbeitet, durch eine Umkehrung der Projektionsgesetze aus Fotografien die Längen von Objekten abzuleiten, etwa um topografische Karten oder Bauzeichnungen herzustellen. 66 Zum historischen Hintergrund der terrestrischen Photogrammetrie vgl. Herta Wolf, «Das Denkmälerarchiv Fotografie», in dies. (Hg.), Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 1 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002), 349–375; Jan von Brevern und Katja Müller-Helle, «Die Vermessung der äußeren Wirklichkeit», in IFKnow, Nr. 1 (2011), 8–9; Jan von Brevern, Blicke von Nirgendwo. Geologie in Bildern bei Ruskin, Viollet-le-Duc und Civiale (München: Fink, 2012), 52–60; ders., «Fototopografia: The ‹Futures Past‘ of Surveying›», in Intermédialités: histoire et théorie des arts, des lettres et des techniques / Intermediality: History and Theory of the Arts, Literature and Technologies, Nr. 17 (2011), 53–67: 55. Bereits die Auswertung terrestrischer Messbilder stellte dabei ein komplexes Problem dar, sodass erst nach Jahrzehnten hinreichend genaue und praktikable Verfahren vorlagen. 67 Zur technischen Frühgeschichte der Photogrammetrie vgl.: Blachut, «Die Frühzeit der Photogrammetrie (bis zur Erfindung des Flugzeugs)» (siehe Anm. 42); Sander, «Über die Entwicklung der Photogrammetrie an Hand der Erfindungen […]» (siehe Anm. 30). Dass eines Tages auch aus Luftaufnahmen, die unweigerlich schief sind und deren Aufnahmeort nicht genau zu rekonstruieren war, topografische Karten abgeleitet werden könnten, wurde von vielen Geodäten deshalb bezweifelt. 68 Vgl. hierzu z.B. Max Eckert, Die Kartenwissenschaft. Forschungen und Grundlagen zu einer Kartographie als Wissenschaft, Bd. 1 (Berlin; Leipzig: Walter de Gruyter & Co, 1921), 273–280.

In dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg wurden zur sogenannten Aerophotogrammetrie dennoch in vielen Ländern Experimente unternommen, etwa von Theodor Scheimpflug in Österreich-Ungarn, Sebastian Finsterwalder und Max Gasser in Deutschland, Jacques-Théodore Saconney in Frankreich, Richard Thiele in Russland und Éduard Deville in Kanada (Abb. 18). Zugrunde lag diesen Versuchen eine einfach klingende Idee: Da ein senkrecht aufgenommenes Luftbild bereits einer Karte ähnelt – müsste es nicht möglich sein, es durch eine Entzerrung zu einer massstabsgerechten Geländedarstellung zu transformieren (Abb. 19)? Grosse Gebiete könnten dann in kürzester Zeit «im wahrsten Sinne des Wortes einfach ‹im Fluge›» 69 Egon Dewidels, «Die Aufnahme von Neuland durch Aerophotogrammetrie», in Allgemeine Ingenieur-Zeitung. Organ des Allg. Ingenieur-Vereines in Wien, Nr. 9/10 (1913), 61–67: 61. kartiert werden. Was unter dieser Prämisse entstand, waren jedoch nicht nur die heute als Fernerkundung oder remote sensing bezeichneten Verfahren zur Informationsgewinnung über die Erdoberfläche, sondern auch eine neue Bildform: jene der fotografischen Karte.

Abb. 18: Topographie: Einst – Jetzt, aus Max Gasser, «Die photogrammetrische Messkunst in der Aeronautik», in Deutsche Luftfahrer-Zeitschrift, 16. Jg., Nr. 19 (1912), 467–472: 469.

Abb. 19: Theodor Scheimpflug, Erste Versuche, Ballonaufnahmen geodätisch zu verwenden: Die Rotunde, Lehrtafel, vermutlich um 1906 © Technisches Museum Wien.

Theodor Scheimpflugs «Photokarte» stellte vor dem Ersten Weltkrieg das bekannteste fotokartografische Verfahren dar. 70 Für eine ausführlichere Darstellung von Scheimpflugs Verfahren vgl. Michael Kempf, «Zwischen Bildrauschen und Orientierungswissen. Theodor Scheimpflugs frühe Versuche mit fotografischen Karten», in Herta Wolf (Hg.), Zeigen und/oder Beweisen? Die Fotografie als Kulturtechnik und Medium des Wissens (Berlin; Boston: De Gruyter, 2016), 219–243. Scheimpflug, der vor seinem Ausscheiden aus den Streitkräften von Österreich-Ungarn am k. u. k. Militärgeographischen Institut in Wien tätig gewesen war, finanzierte seine Versuche aus eigenen finanziellen Mitteln und entwickelte ab der Jahrhundertwende eine Reihe an Luftbildgeräten und Auswertungsapparaten. 71 Zu Scheimpflugs Biografie vgl., wenngleich affirmativ: Eduard Doležal und Karl Lego, «Theodor Scheimpflugs Leben und Wirken», in Theodor Scheimpflug. Festschrift zum 150jährigen Bestand des staatlichen Vermessungswesens in Österreich, hg. vom Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen, Österreichischen Verein für Vermessungswesen, Österreichische Gesellschaft für Photogrammetrie (Wien: Österr. Verein für Vermessungswesen, 1956), 5–15. Um ein möglichst grosses Gebiet aufnehmen zu können, konstruierte er einen Panoramenapparat mit sieben ringförmig um ein Mittelobjektiv angeordneten Fotokameras, die vom Ballonkorb aus gleichzeitig ausgelöst werden konnten. Das Mittelobjektiv des Apparats war senkrecht nach unten gerichtet, während die Kammern des umschliessenden Kranzes um 45 Grad geneigt waren (Abb. 20).

Abb. 20: Th. Scheimpflugs achtteilige Aerokamera. Während der Belichtung, aus Gustav Kammerer, «Th. Scheimpflugs Landvermessung aus der Luft», in Internationales Archiv für Photogrammetrie, 3. Jg., Nr. 3 (Dez. 1912), 196–226: 202.

Ihren Urtyp hatte die Konstruktion in Triboulets mehräugigem Panoramenapparat aus den 1880er-Jahren. Je höher der Ballon aufstieg, umso grösser wurde das von Scheimpflugs Gerät aufgenommene Gelände: bei einer Fahrthöhe von 225 Metern wurden bereits 100 Hektar auf den Platten erfasst; bei einer Höhe von 4’500 Metern 40’000 Hektar. 72 Gustav Kammerer, «Th. Scheimpflugs Landvermessung aus der Luft», in Internationales Archiv für Photogrammetrie, 3. Jg., Nr. 3 (Dez. 1912), 196–226: 208. Um diese Geländeabdeckung zu erreichen, mussten die mit den nach verschiedenen Richtungen ausgerichteten Kammern simultan aufgenommenen Fotografien jedoch erst entzerrt und zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden (Abb. 21 u. Abb. 22).

Abb. 21: «Fig. 5. Originalaufnahmen mit dem achtfachen Panoramenapparat Th. Scheimpflugs», aus Gustav Kammerer, «Th. Scheimpflugs Landvermessung aus der Luft», in Internationales Archiv für Photogrammetrie, 3. Jg., Nr. 3 (Dez. 1912), 196–226, Tafel I.

Abb. 22: «Fig. 6. Die Originalaufnahme in Fig. 5 zu einem Gesamtpanorama umphotographiert», in Internationales Archiv für Photogrammetrie, 3. Jg., Nr. 3 (Dez. 1912), 196–226, Tafel II.

Scheimpflug experimentierte mit verschiedenen auf Luftaufnahmen beruhenden Kartenbildern. Seine Vorschläge konnten einerseits schon damals den fotorealistischen Ansichten ähneln, die wir heute von Kartendiensten wie Google Maps kennen. Andererseits konnte durch eine kartografische Überarbeitung des Luftbildmaterials die Differenz zwischen Karte, Bild und Diagramm auch infrage gestellt sein. Dass eine solche Karte auf einem Luftbild basierte, war durch ihre aufwendige Bearbeitung häufig nicht mehr erkennbar (Abb. 23). Scheimpflugs spätere Konzeptualisierung der «Photokarte» zielte auf diese Weise nicht mehr auf einen fotografischen Wirklichkeitseindruck ab; sie lässt sich stattdessen mit dem Umgang mit Daten in einem modernen Geoinformationssystem (GIS) vergleichen. Vorgesehen waren verschiedenfarbige Druckplatten, um die fotografische Basiskarte mit Informationen wie Höhenlinien, Grenzverläufen, Verkehrswegen oder Beschriftungen anzureichern (Abb. 24). 73 Ibid., 218. Die Rekombination der Druckplatten als Informationsträger hätte im Ergebnis zu ganz verschiedenen Karten geführt und hätte dem geähnelt, was wir heute als das Ein- und Überblenden verschiedener Informationslayer in digitalen Karten kennen. Durch die Hinzufügung weiterer Druckplatten mit ergänzenden raumbezogenen Daten hätte mit den generierten Kartenbildern wie bei einem Geoinformationssystem fortlaufend neues topografisches Wissen produziert werden können. 74 Chromolithografie wie Fotolithografie können insofern als Vorläufer heutiger Geoinformationssysteme betrachtet werden, als bei diesen Verfahren das geschlossene Kartenbild für den Druck aufgelöst und der Karteninhalt auf thematisch separierte Druckplatten übertragen wurde. Die Vorgehensweise hatte ihren Grund zwar darin, dass verschiedenartige Informationen verschiedenfarbig gedruckt werden sollten, was nur mit getrennten Druckplatten möglich war. Es kann aber argumentiert werden, dass damit das sogenannte Ebenenprinzip von GIS – die Speicherung von Daten in gleichberechtigten Layern, deren Überlagerung zur gewünschten kartografischen Darstellung führt – vorweggenommen wurde.


Abb. 23: Eine «Photokarte» in einfacher Ausstattung, um 1912, aus Gustav Kammerer, «Th. Scheimpflugs Landvermessung aus der Luft», in Internationales Archiv für Photogrammetrie, 3. Jg., Nr. 3 (Dez. 1912), 196–226, Tafel IV.

Abb. 24: Horizontale Vogelperspektive als Probe der Bildwirkung einer raumtreuen Photokarte (Landschaft am Nordabhang der Leiser Berge in Niederösterreich), System Scheimpflug-Peucker, 38 x 28,7 cm, Probedruck vom 16.04.1913 © Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen Wien (BEV).

Vorbehalte gegenüber seinem noch kaum erprobten Verfahren führte Scheimpflug darauf zurück, dass sich Vermessungsingenieure durch eine Photogrammetrie aus der Luft in ihrer beruflichen Existenz bedroht sahen. Er ging deshalb bald dazu über, die Luftbildtechnik als ein Mittel zur Vermessung der Kolonien zu bewerben. 75 Theodor Scheimpflug, «Die technischen und wirtschaftlichen Chancen einer ausgedehnten Kolonial-Vermessung», in Richard Wachsmuth (Hg.), Wissenschaftliche Vorträge gehalten auf der Ersten Internationalen Luftschiffahrts-Ausstellung (ILA) zu Frankfurt A/M. 1909 (Berlin: Verlag von Julius Springer, 1910), 177–202: 180. Da seine Aerophotogrammetrie die Erschliessung, Kontrolle und effizientere wirtschaftliche Ausbeutung beanspruchter Gebiete befördern sollte, muss sie im kolonialen Kontext auch als Herrschaftsinstrument aufgefasst werden. 76 «Landkarten sind ebenso komplexe wie effiziente Instrumente der Macht. Sie eröffnen einen Möglichkeitsraum, indem sie ihren Leserinnen und Lesern ein Handlungspotential offerieren, das zur Veränderung der Realität einlädt. Gleichzeitig geht bereits von ihren papierenen Oberflächen selbst eine Benennungsmacht auf die bezeichneten Räume aus, deren Konsequenzen oft realitätsprägend sind. Landkarten zeichnen sich also durch eine doppelte Pragmatik aus: Sie stellen Handlungsmöglichkeiten bereit, und sie sind selbst machtpolitische Akte.» – David Gugerli und Daniel Speich, Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert (Zürich: Chronos Verlag, 2002), 75. So wurde es etwa als Vorteil betrachtet, dass sich die Bevölkerung in den Kolonien gegen Vermessungen aus der Luft kaum würde wehren können, wie ein Fürsprecher Scheimpflugs folgendermassen darlegte: «Weder die Wildheit von Kannibalen, noch die größte Ungangbarkeit des Terrains können […] die topographische Aufnahme von Neuland verhindern.» 77 Dewidels, «Die Aufnahme von Neuland durch Aerophotogrammetrie» (siehe Anm. 69), 61. Trotz verschiedener Vorschläge – etwa eine fotografische Kartierung Neuguineas – wurden vor den 1920er-Jahren jedoch keine grösseren aerophotogrammetrischen Landesaufnahmen im Ausland unternommen. 78 Detlef Siegfried, «Kartierung der Welt. Das Luftbild in der Weimarer Republik», in Adam Paulsen und Anna Sandberg (Hg.), Natur und Moderne um 1900. Räume – Repräsentationen – Medien (Bielefeld: transcript, 2013), 285–303: 297–299.

Nach Scheimpflugs unerwartetem Tod im Jahr 1911 führte sein langjähriger Mitarbeiter Gustav Kammerer die Versuche fort. Unter anderem unterstützte Kammerer das Dresdner Unternehmen Ernemann bei der Entwicklung eines Entzerrungsgeräts für militärische Luftaufnahmen. 79 Josef Krames, «Scheimpflugs Landesvermessung aus der Luft», in Theodor Scheimpflug. Festschrift zum 150jährigen Bestand des staatlichen Vermessungswesens in Österreich, hg. vom Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen, Österreichischen Verein für Vermessungswesen, Österreichische Gesellschaft für Photogrammetrie (Wien: Österr. Verein für Vermessungswesen, 1956), 63–79: 75. Bereits 1910 liess Grossbritannien über Generalmajor John Edward Capper, der mit dem Aufbau der britischen Luftstreitkräfte beauftragt war, «eine militärische Erkundungsausrüstung (bestehend aus einer photogrammetrisch justierten Aerokamera und einem Photoperspektographen)» bestellen. 80 Gustav Kammerer, «Flugwesen in den Kolonien», in Deutsche Kolonialzeitung, 29. Jg., Nr. 51 (21.12.1912), 879–880: 879. Vgl. auch: John Edward Capper, «Travelling in the Air», in The Royal Engineer Journal, 12. Jg., Nr. 3 (1910), 219–224. Capper berichtet hier dem englischen Publikum über Scheimpflugs Erfindung. «Eine solche Ausrüstung vermag geneigte Photographien des feindlichen Lagers aus Höhepunkten über dem eigenen Lager in wenigen Minuten und ohne künstliche Lichtquelle in horizontale Vogelperspektiven zu verwandeln, von denen die Entfernungen der feindlichen Truppen oder Schiffe unmittelbar abzunehmen sind», legte Kammerer den militärischen Nutzen dar. 81 Kammerer, «Th. Scheimpflugs Landesvermessung aus der Luft» (siehe Anm. 72), 224.

Ein tragischer Unfall bedeutete das Ende von Scheimpflugs Aerophotogrammetrie – gerade, als sich auch das k. u. k. Kriegsministerium verstärkt für das Verfahren zu interessieren begann. 82 Kammerer, «Flugwesen in den Kolonien» (siehe Anm. 80), 879. Bei der «Ballonkatastrophe in Fischamend», 83 o. V., «Ballonkatastrophe in Fischamend. Zusammenstoß zwischen einem Körting-Ballon und einem Aeroplan. Sämtliche neun Insassen getötet», in Neue Freie Presse, Nr. 17894 (20.06.1914), Abendblatt, 1–2. einem aufsehenerregenden Luftfahrtunglück, das auch in amerikanischen Zeitungen erwähnt wurde, 84 Etwa: o. V., «Nine perish when ‘plane hits airship», in New York Tribune, Nr. 24689 (21.06.1914), 1. starben am 20. Juni 1914 neun Menschen. Durch ein missglücktes Militärmanöver stiess ein Flugzeug mit einem Luftschiff zusammen. Es handelte sich dabei um jenen Körting-Ballon, der erst zu Monatsbeginn dem k. u. k. Militärgeographischen Institut zur Erprobung der Vermessungstechnik zur Verfügung gestellt worden war. 85 o. V., «Das Scheimpflug-Kammersche Verfahren», in Neue Freie Presse, Nr. 17894 (20.06.1914), Abendblatt, 3. An Bord des explodierenden Luftschiffs befand sich auch Scheimpflugs Nachfolger Gustav Kammerer.

NUN SIND WIR ALLE SPIONE

Die frei zugänglichen Luft- und Satellitenbilder der digitalen Kartendienste erlauben es uns heute, wie ein Geheimdienst die Erdoberfläche auf merkwürdige Bildgestalten zu scannen. So stiessen Leser_innen der Zeitschrift Wired bei einer konzertierten Betrachtung der Wüste Gobi im Jahr 2011 auf eine Vielzahl bizarrer geometrischer Strukturen, die auf militärische Experimente hinzudeuten schienen (Abb. 25). 86 Jesus Diaz, «Why Is China Building These Gigantic Structures In the Middle of the Desert?», in WIRED (14.11.2011): http://www.wired.com/dangerroom/2011/11/china-gigantic; Noah Schachtman, «More Mammoth (and Mysterious) Structures Found in China’s Desert», in WIRED (15.11.2011): https://www.wired.com/2011/11/mammoth-mysterious-china; ders., «Spy Sat Calibrators? King-Sized Jokes? China’s Colossal Structures Confound», in WIRED (16.11.2011): http://www.wired.com/dangerroom/2011/11/colossal-structures-china. Doch nicht nur Chinas Staatsgeheimnisse gerieten mit Google Earth in den Blick der Öffentlichkeit. Bereits 2007 entdeckte ein Blogger auf frei zugänglichen Bildern ein amerikanisches Atom-U-Boot, bei dem der Propeller nicht abgedeckt war – ein technisches Detail, das dreissig Jahre lang strengster Geheimhaltung unterlegen hatte. 87 Sharon Weinberger, «Can You Spot the Chinese Nuclear Sub? Widely Available Satellite Imagery is Making Governments Around the World Awfully Nervous», in DISCOVER Magazine (21.07.2008): http://discovermagazine.com/2008/aug/21-can-you-spot-the-chinese-nuclear-sub.

Wie selbstverständlich nutzen wir inzwischen fotografische Karten, um die Lage eines Hotels einzuschätzen oder ein unbekanntes Stadtviertel zu erkunden. Selbst preiswerte Kamera-Drohnen verfügen bereits über eine intelligente Zielerfassung, welche Objekte in Bewegung automatisch im Fokus von Videoaufnahmen hält. Gleichzeitig werden solche regulär im Handel erhältliche Drohnen von der Polizei und staatlichen Stellen mit geringem Aufwand für Kontroll- und Überwachungsaufgaben umgerüstet. Was durch den militärischen Gebrauch ein Jahrhundert lang zuvorderst als eine «Bewaffnung des Auges» 88 Das taktische Lichtbilderbuch. Zusammengestellt aus Flugzeugaufnahmen von Ost und West. Aus der Zeit von Kriegsbeginn 1914 bis Frühjahr 1916, o. O., 1916, 3. erschien, ist durch die Konvergenz von Zivil- und Militärtechnik nun eine Facette unserer Alltagswahrnehmung geworden. 89 Vgl. hierzu insbesondere Stahl, Through the Crosshairs: War, Visual Culture, and the Weaponized Gaze (siehe Anm. 15).

Abb. 25: Seltsame Strukturen in der Wüste Gobi, Google Maps.