Federica Chiocchetti, Linguivore Species – eine sprachfressende Art 23.05. – 02.06.2019 | online

SITUATION #173

Im folgenden Text soll es anhand zweier Text-Bild-Bände um das komplexe Thema der Gewalt gegen Frauen gehen. Die beiden Bände entstammen zwei recht weit auseinanderliegenden Epochen und befassen sich mit unterschiedlichen Typen von Gewalt, von der Beleidigung bis hin zum Mord: Un album di violenza der amerikanischen Künstlerin und politischen Aktivistin Stephanie Oursler, die bis zu ihrem Tod im vergangenen Sommer in Rom lebte, 1976 bei den bahnbrechenden Edizioni delle donne erschienen; und der Band (More Than) Dust der in San Francisco lebenden bildenden Künstlerin und Dichterin Jamie Oliveira, der mithilfe einer Kampagne auf Kickstarter genau 40 Jahre später im Selbstverlag veröffentlicht wurde. Meine Beschäftigung mit diesen beiden Arbeiten hat sich auf darauffolgende Projekte ausgewirkt und wurde wiederum von diesen infiziert, angefangen mit dem ersten Entwurf für die Konferenz The Committed Phototext in Paris (Juni 2018), bis hin zur aktuellen Version dieses Textes, die für SITUATIONS/Foto Text Data ausgearbeitet wurde.

Zwischen den intensiven Tagen der Konferenz und der Veröffentlichung dieses Textes ist fast ein Jahr vergangen, in dem ich das Glück hatte, neben meinen anderen Aktivitäten eine Paneldiskussion in der Photographers’ Gallery in London zu organisieren, die Ende September unter dem Titel Photography & Gender Dynamics post #MeToo stattfand. Ein Ziel dieser Veranstaltung war es, die virale Oberfläche der #MeToo-Bewegung zu überwinden, deren Bedeutung zwar unstrittig ist, aber in gewisser Weise auch verschleiert wurde durch eine Art „Spektakularisierung“ im Stile des westlichen, weissen Hollywood. Hinter eben dieser Oberfläche verschwinden jedoch ernste Fragen von Privilegien und des Postkolonialismus, um die es gehen muss, wie Tarana Burke, die ursprüngliche Initiatorin des Me-Too-Movement vor mehr als zehn Jahren bei ihren jüngsten öffentlichen Auftritten ausgeführt hat. Während der Konferenz erinnerte uns die Künstlerin und Dichterin Khairani Barokka an die verborgenen und gefährlichen Schnittstellen zwischen Feminismus, Frauenrechten und dem Kapitalismus. Sie forderte uns auf, über ein scheinbar unschuldiges Objekt nachzudenken: roten Lippenstift. Zunächst musste er als ein feministisches Symbol für die Emanzipation der Frauen neu besetzt werden, mittels einer Dekonstruktion all der ‚sexualisierten‘ Konnotationen, die in den Bildern der Femmes fatales mitschwingen, die in der Modefotografie, Werbung und Filmindustrie Hollywoods zirkulierten. Khairani erinnerte ebenso an die unsichtbaren Schichten der Gewalt gegen Frauen jenseits solcher politischen Fragen der Repräsentation. Es sind Schichten, die ein roter Lippenstift verbirgt und die mit der industriellen Herstellung von Palmöl zu tun haben, das in fast jedem Lippenstift enthalten ist, und dessen internationaler Handel und Anbau in Khairanis Heimat, der Insel Java in Indonesien, nicht nur mit schrecklichen Arbeitsbedingungen für Frauen einhergeht, sondern auch den entsetzlichen Nebeneffekt des sexuellen Missbrauchs von Dorfbewohnerinnen hat. [1] Nach mehreren Überarbeitungen scheint mir, dass sich mein Text als ein offenes „Work in progress“ versteht, mit Verknüpfungen zu weiterführender Forschung, auch weil ich, trotz meines Willens zum Optimismus, stark bezweifle, dass die Gewalt gegen Frauen zu meinen Lebzeiten ein für allemal aus der Welt verschwinden wird. Was sich aber zum Besseren entwickeln kann, sind die Systeme des Widerstands und der Heilung, und ich hoffe, dass ich zukünftig immer wieder mit guten Neuigkeiten zu diesem Text zurückkehren werde. Die Ernennung eines „UN-Sonderberichterstatters zu Gewalt gegen Frauen, deren Ursachen und Konsequenzen“ im Jahr 1994, die Einführung der statistischen Erfassung von Femiziden, um diese hoffentlich im Laufe der Zeit auszurotten, und die Verbreitung von Initiativen und Bewegungen wie Ferite a Morte und #MeToo, die in einigen Fällen aufgrund der einhelligen öffentlichen Verurteilung ihrer Taten bereits zur Entfernung von Tätern aus ihren Positionen geführt hat, sind wichtige Schritte in diese Richtung. [2]

Während ich am 25. November 2018 an der Überarbeitung einer früheren Version dieses Textes sass, wurde mir bewusst, dass es der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen war, ein von der UN seit 1999 in Gedenken an die Schwestern Mirabal offiziell anerkannter Gedenk- und Aktionstag. Die beiden Schwestern waren Aktivistinnen der dominikanischen Revolution, die sich der Diktatur von Rafael Trujillo widersetzten und am 25. November 1960 ermordet wurden. [3] Es fühlte sich wie ein feierlicher Anlass an, wühlte mich aber auch auf. Ich fühlte mich von der Relevanz und Dringlichkeit des Themas überwältigt und musste fortwährend an die alarmierenden aktuellen Statistiken denken, die offiziell in Institutionen dokumentiert und über die in den internationalen Nachrichten berichtet werden. [4]Ich las Rebecca Solnits bahnbrechendes Buch Wenn Männer mir die Welt erklären (2014), und gemeinsam mit dem Bewusstsein für meine Privilegien als weisse westliche Frau, nahm das Gefühl der Ohnmacht weiter zu, als ich zu dem Absatz über die Länder des Nahen Ostens kam, „in denen die Aussage einer Frau kein rechtliches Gewicht hat, eine Frau also gegen einen Mann, der sie vergewaltigt hat, nur gerichtlich vorgehen kann, wenn sie einen männlichen Zeugen hat, der dem Vergewaltiger entgegentritt.“ [5] Durch meine gleichzeitige Lektüre des Romans Le donne amate (2018) von Francesco Pacifico, in dem ein leicht paranoider intellektueller, bürgerlicher Protagonist gesteht, seine Ex-Liebhaberin „versehentlich“ vergewaltigt zu haben, provozierten mein Widerwille und meine Wut beinahe eine Schreibblockade in mir. Wie um alles in der Welt kommt man, und sei es für einen fiktionalen Text, auf das Oxymoron einer „versehentlichen Vergewaltigung“? Wer kommt damit durch? Clare Strands brillante Arbeit über Männer und Türme, die im Rahmen von SITUATIONS/Foto Text Data gezeigt wurde, liefert die präziseste Antwort: „Men Only“!

Solnit betont die Bedeutung von Glaubwürdigkeit als „wesentliche Voraussetzung, um zu überleben“ angesichts von Gewalt. In ihrem Kapitel „Großmutter Spinne“ schreibt sie:

„Manche Frauen werden in kleinen Schritten ausgelöscht, andere auf einen Schlag. Manche tauchen wieder auf. Jede Frau, die wieder auftaucht, muss mit den Kräften ringen, die sie verschwinden lassen wollen. Sie muss sich der Kräfte erwehren, die ihre Geschichte für sie erzählen wollen oder sie aus ihrer eigenen Geschichte, ihrer Abstammung, aus den Menschenrechten, der Geltung des Rechts wegzuerzählen versuchen. Die Fähigkeit, die eigene Geschichte zu erzählen, ob in Wort oder Bild, ist bereits ein Sieg, ein Aufstand.“[6]

Im Kampf um Glaubwürdigkeit sind die verbale und die visuelle Sprache grundlegende Mittel, um auf diese unbeschreiblich und grundlos ungerechten Gewalttaten zu reagieren, die leider immer noch eine extrem dunkle Seite unseres Alltags darstellen. So muss beispielsweise im Strafrecht eine Straftat offiziell gemeldet, mit Beweisen während der Verhandlung(en) belegt und als strafbar beurteilt werden. Im institutionell verankerten Recht sind Glaubwürdigkeit und Beweis extrem eng miteinander verflochten. Das zwiespältige Verhältnis von Fotografie und Wahrheit, gesteigert durch die Verbreitung frei zugänglicher Bildmanipulationssoftware, haben den Status der Fotografie als Beweismittel vor Gericht zunehmend infrage gestellt, wie Zachariah B. Parry in seinem Artikel „Digital Manipulation and Photographic Evidence: Defrauding the Courts One Thousand Words at a Time” von 2009 ausführt. Wenn es um Kunstwerke geht, die sich mit dem Zusammenhang von Verbrechen und Politik auseinandersetzen, erhält die Fragilität visueller und verbaler Sprachen, jenseits ihrer Fragwürdigkeit als Beweismittel, eine weitere Dimension, die in Martha Roslers experimenteller Foto-Text-Arbeit The Bowery in Two Inadequate Descriptive Systems (1974-75) hervorragend verdichtet wurde. Indem sie Fotos der sozialen Realität des Bowery District in New York, damals ein berüchtigter Treffpunkt von Alkoholiker_innen und Obdachlosen, auf spielerische und poetische Weise Texttafeln mit Umschreibungen von Trunkenheit gegenüberstellt, liefert Rosler eine konzeptuelle und pointierte Kritik an der Dürftigkeit von Repräsentation in der politischen Dokumentarfotografie. Im Kapitel „Das Kassandra-Syndrom“ führt Solnit aus:

„Sexuelle Gewalt ist, genau wie Folter, ein Angriff auf die körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung. Sie wirkt vernichtend, bringt das Opfer zum Verstummen. Und dann soll das zum Verstummen gebrachte Opfer sprechen – gegenüber der Polizei und der Gesprächstherapie. Die eigene Geschichte zu erzählen, zu erleben, dass sie anerkannt und man selbst als Erzählende(r) respektiert wird, ist nach wie vor eine der besten Methoden, ein Trauma zu bewältigen.“[7]

Wenn sich eine Frau, die Opfer von Gewalt wurde, entscheidet auszusagen, ist damit noch keineswegs gewährleistet, dass man ihr auch glauben wird und der Täter für seine Tat bestraft wird, so dass sich ihr Trauma oftmals noch verstärkt. Das Gefühl, dass man nicht nur Opfer von Gewalt wurde, sondern die Menschen, denen man davon erzählt, einem keinen Glauben schenken – oder selbst wenn sie es tun, die Bestrafung des Täters und die eigene Heilung keineswegs garantiert sind – führt unausweichlich zu einem zweiten Trauma kaum fassbarer Hoffnungslosigkeit, einem Trauma, das eng mit der Unzulänglichkeit verbaler und visueller Sprache verbunden ist. Wenn man von der erlebten Gewalt berichtet, dem Bericht aber die Glaubwürdigkeit abgesprochen wird, dann wird das Medium dieses Scheiterns, die Sprache, zu etwas ausgesprochen Frustrierendem. Aber auch mit visuellen Mitteln kann kaum ein Opfer die Gewalt beweisen, die sie erlebt hat. Wenn wir jetzt noch ergänzen, dass Freud es „auf[gab], seinen Patientinnen zuzuhören“, denn, wie Solnit kommentiert, „wenn sie die Wahrheit sagten, würde er Partei für sie ergreifen und das gesamte Gebäude patriarchaler Autorität in Frage stellen müssen“, dann wird die groteske Hoffnungslosigkeit schier unerträglich. [8] Die amerikanische Psychiaterin Judith Herman hat einen relevanten Aufschluss über Freuds wahnhaftes Urteil gegeben, dass „Frauen sich die missbräuchlichen sexuellen Begegnungen, über die sie klagten, einbildeten und wünschten“ [9] In ihrem bahnbrechenden Buch Die Narben der Gewalt kommt sie zu dem beunruhigenden Schluss, dass „die maßgebliche psychologische Theorie des 20. Jahrhunderts auf der Leugnung der weiblichen Realität“ basiere, wofür Florence Rush in den 1970er JahrenSind uns die negativen Nebenffekte für die Glaubwürdigkeit von Frauen mittlerweile voll bewusst?

Die Verbindung der beiden ‚unzulänglichen Beschreibungssysteme’ ‚scripto-visueller’ Sprache in Kunstwerken, die sich mit einem so brisanten Thema befassen, schafft eine wichtige Lücke oder Leerstelle zwischen Bildern und Wörtern, wenn diese Verbindung so erfolgt, dass die Bilder und Wörter gegenseitig ihre Ambiguität verstärken mittels dessen, was Roland Barthes die „Relaisfunktion“ genannt hat. Diese Lücke ist das Ergebnis eines ständigen Hin-und-Herspringens, oder Spannungsverhältnisses, zwischen dem Betrachten der Bilder und dem Lesen der Wörter. Erst im Kopf der Betrachter_innen und Leser_innen entsteht ein neues, drittes Objekt, das Sergej Eisenstein in Bezug auf die Montage in Film, Literatur und Kunst als „etwas Drittes“ bezeichnete. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass im Umgang der Foto-Text-Bände Ourslers und Oliveiras mit der Lücke zwischen Wörtern und Bildern, mit ihren Ambivalenzen und kulturellen Konnotationen, und mit der Art der Rekontextualisierung von Bedeutung ein Raum zum Nachdenken eröffnet wird. Einen Raum zum Nachdenken über die Angriffe auf die Glaubwürdigkeit von Frauen, über die Absurdität von Gewalt und die Unzulänglichkeit dieser Sprachen für die Darstellung der durch sie verursachten Traumata. Als Raum der Verhandlung solcher Fragen könnten diese Bücher auch zur Heilung der Traumata durch Bewusstwerdung, Anwaltschaft und Erzählungen beitragen.

Un album di violenza und (More Than) Dust verfolgen beide den Ansatz, über Gewalt durch die Aneignung und Dekonstruktion der Sprache der Täter nachzudenken. Auch der Titel dieses Essays, „Sprachfressende Art“, bezieht sich darauf und unterstreicht die Verbindung von scripto-visueller Sprache und der Glaubwürdigkeit als Waffe der Frauen zur Selbstverteidigung, als Mittel der Rückeroberung ihrer missbrauchten Identitäten. Der Titel ist zugleich eine Hommage an Khairanis Gedichtsammlung Indigeneous Species, in der ein junges Mädchen „das entführt wurde und auf einem Boot eingesperrt stromaufwärts auf einem indonesischen Fluss ins Landesinnere fährt, durch eine Landschaft, die von Umweltzerstörung und Gier gezeichnet ist, sich vielleicht aber dennoch selbst retten kann“, falls es ihr gelingt, sich über ihre indigene Herkunft in der Landschaft und den Sprachen erneut zu verwurzeln. [13] Und so entmystifizieren die misshandelten Frauen auch bei Oursler und Oliveira die Gewalt, die sie erlitten haben, und beteuern sarkastisch ihre Glaubwürdigkeit, indem sie sich die Sprache der Täter aneignen und sie subversiv in der Verbindung von Text und Bild verwenden. Mir scheint es kein Zufall, dass sie sich dafür einer scripto-visuellen Sprache bedienen, die Bilder und Worte verknüpft. Experimente mit Fotografie und Text in den 1970er Jahren, wie die von Barbara Kruger und Victor Burgin, hatten unter anderem das Ziel, Werke in die Kunstwelt einzuführen und zu vermarkten, die sich mit politischen, semiotischen und psychoanalytischen Fragen befassen, um gesellschaftlich dominante Ideologien ihrer Zeit zu dekonstruieren. Im Kontext des Clusters „Foto Text Data“ ist Burgins Poster Possession von 1976 ein sehr interessantes Beispiel aus der Zeit vor dem Internet, in dem die Worte „Was bedeutet Ihnen Besitz? 7% unserer Bevölkerung besitzen 84% unseres Vermögens“, mit Quellenangabe (The Economist) und dem Bild eines wohlhabenden, weissen, westlichen Paares, das zwischen Frage und Antwort Zärtlichkeiten austauscht, eine bewusste Vermengung sexueller Konnotationen mit dem Thema der Ungleichheit darstellen. Der Ansatz von Oursler und Oliveira erinnert entfernt auch an Roslers The Bowery in Two Unadquate Descriptive Systems, da es durchaus plausibel erscheint, dass sowohl Oursler als auch vierzig Jahre später Oliveira sich für dichotome Anordnungen von Bild und Text entschieden haben, um bei der Auseinandersetzung mit einem so sensiblen und traumatisierenden Thema die Unzulänglichkeit der beiden Einzelmedien zu überwinden.

Nachdem sie ihren Abschluss in Literaturwissenschaft an der George Washington University gemacht und dort einige Zeit unterrichtet hatte, war Oursler von 1965 bis 1967 Parteisekretärin der Peace-and-Freedom-Party und in den Jahren 1966–67 Aktivistin der Black-Panther-Bewegung. 1969 wurde sie die erste Direktorin des Women Centers in New York. Nach ihrer Begegnung mit Vana Caruso, einer Regieassistentin und Frau des italienischen Künstlers Giulio Turcato, zog Oursler nach Italien, wo sie sich der feministischen Gruppe La Compagnia del Beato Angelico anschloss. In den 1970er Jahren arbeitete sie in Italien als Künstlerin, mit Ausstellungen in Romana Lodas Galerie Multimedia in Erbusco bei Brescia. Un album di violenza, eines der bedeutendsten konzeptuellen feministischen Kunstbücher der 1970er Jahre, ging aus ihrer Ausstellung Happy New Year bei Multimedia im Jahr 1975 hervor. [14] Das Buch stellt als Siebdrucke vergrösserte Schnappschüsse und Porträts von Frauen, die Opfer männlicher Gewalt wurden, einem bedrückend umfangreichen Druckheft von inkonsequent durchnummerierten Nachrichtenmeldungen gegenüber. Es handelt sich hierbei um weitere Meldungen über Gewalt gegen Frauen, abgedruckt in den bürgerlichen und von Männern dominierten italienischen Tageszeitungen in der Rubrik „Verbrechen“, in Italien auch als „cronaca nera“ bekannt, was wörtlich übersetzt „schwarze Nachrichten“ bedeutet; eine Rubrik, von der die italienische Nachrichtenbranche immer schon auf eine makabre Art besessen gewesen ist, was sich vielleicht als ein Erbe der diktatorischen Regimes verstehen lässt, deren Strategie es war, die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu halten, um die Akzeptanz für strengere Gesetze zu erhöhen. [15]

Buchseiten von Stephanie Oursler, Un album di violenzia. Alle Fotos von der Autorin.

In der Anordnung eines Kalenders – ein ironischer Verweis auf den damals beliebten Playboy – stellt Oursler zwölf Monate Gewalt vor. In den 1970er Jahren stieg die Zahl der gemeldeten Vergewaltigungen und gewaltsamen Übergriffe gegen Frauen deutlich an, wobei das Jahr 1975 einen finsteren Höhepunkt markiert: Antonietta Bernardini, die in die psychiatrische Anstalt in Pozzuoli bei Neapel eingeliefert wurde, weil sie einen Polizisten geschlagen haben soll, starb, nachdem ihre Matratze Feuer gefangen hatte auf der sie vier Tage ans Bett gefesselt war. Im September 1975 wird die 19-jährige Rosaria Lopez von drei wohlhabenden Männern aus Rom ermordet, nachdem sie sechsundreissig Stunden misshandelt und vergewaltigt worden war, was als „Circeo-Massaker“ traurige Bekanntheit erlangte. Oursler benutzte für jeden Monat des Jahres ein Zeitungsfoto von Opfern berühmter Kriminalfälle, begleitet von handgeschriebenen Satzfragmenten unter dem Bild, die möglichen Gründe der Gewalt evozieren: „Sie wollte ein Glas Wasser“; „Sie kaufte sich immer sehr teure Schuhe“; „Ihr Mann war zwanzig Jahre vorher bei einem Arbeitsunfall verletzt worden“. Es sind Gründe, die auf den ersten Blick die Willkür von Gewalt zu betonen scheinen, hinter denen sich aber kulturell anerkannte Rechtfertigungen verbergen, die uns auf beunruhigende Art an das bereits erwähnte „Freud’sche Vertuschungsmanöver“ erinnern.

Die Banalität der Verhaltensweisen, die als Auslöser der Gewalt gedient haben könnten, bewirkt einen Kurzschluss, der die Absurdität von Gewalt und die Unmöglichkeit unterstreicht, Gründe für ihre Rechtfertigung zu finden. Ourslers Texte stellen das dar, was Walter Benjamin als „revolutionären Gebrauchswert“ bezeichnete, den die Beschriftung Fotografien verleihe und sie so „dem modischen Verschleiß entreißt“, unter dem, so Benjamin, die Fotografie seiner Zeit leide, da sie in ihren Bildern selbst soziales Elend noch verklärend darstelle. [16] . Ourslers angeeignete Bilder von Opfern sind alles andere als modische Konsumprodukte, auch wenn die Technik des Siebdrucks mit einer durchaus anziehenden Ästhetik einhergeht. Jedes Paar aus Bild und Beschriftung wird darüber hinaus von einer Fülle von Texten begleitet, Auszügen aus Zeitungsspalten der italienischen Presse. Diese Textspalten sind auf Allongen abgedruckt, die sich rechts des Porträts aufklappen lassen. Sie sind mit einzelnen Wort- und Satzfragmenten in grösserer und fetter Schrift durchsetzt, wie beispielsweise „Pistole“ oder „Sie will keine Liebe“, die zusammen mit den roten, über den Text gelegten willkürlichen Zahlen zu einer wilden Entfaltung von Zeit und Sprache führen.

Bild-Text-Schnittstellen werden auf diese Weise vervielfacht und erweitert, wodurch ein klaustrophobischer und beklemmender Effekt entsteht, der den Abstand zwischen einer persönlichen Erinnerung aus dem eigenen Leben, betont durch die Subjektivität der autobiografischen Geste der Handschrift, und der vermeintlich unvoreingenommenen Objektivität von Pressedokumenten infrage stellt. Das Cover des Buches, die Nahaufnahme einer schwarzen Mülltüte – die zur Enttäuschung der Künstlerin im Druck bläulich wurde – erinnert an die Installation, die Oursler für die Ausstellung Happy New Year gemacht hatte, wo sie schwarze Müllsäcke an der gesamten Decke aufhing, die mit Zeitungsabfällen gefüllt waren, als Metapher für weggeworfene Frauenleben. [17] Die vielleicht herzerreissendsten Worte des gesamten Buches stehen am Anfang und sind von Oursler selbst:

„Geschichte ist nachts nicht fortschrittlich. Die Männer sind vorübergehende zufällig lärmende Besetzer des Universums. Die Frauen sind, wenigstens, ruhig unsichtbar.... An den klaren Morgen gewohnt gesunden Verstandes liest man die Zeitung und die Vernunft verfinstert den Mond. Es gibt Frauen, die es verdienen, gehört zu werden, beredt in ihrer von Männern verliehenen Macht zu sterben.“ [18]

Vierzig Jahre später leben wir in einer Zeit mit einer schier überwältigenden Fülle von Social Media-Apps, die um die Foto-Text-Produktion ihrer Nutzer_innen herum organisiert sind. Wenn man genauer darüber nachdenkt, ist die Google-Bildersuche das ultimative Mittel Wort-Bild-Verbindung, da man zunächst einen Text in ein leeres Feld eingibt, der über die Bilder entscheidet, die als Suchergebnisse angezeigt werden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Oliveiras Buch (More Than) Dust zunächst als Foto-Text-Produktion auf Facebook anfing, mit einer Reihe von Posts und Selbstporträts, denen sie „beleidigende Ausdrücke und Wörter, die ihr letzter Freund zu ihr gesagt hatte“, gegenüberstellte. [19] Wie Sarita Tanori betont hat, „war die Absicht hinter dem Foto, das emotionale Gewicht anzuerkennen, das Worte haben können, und welche negativen Auswirkungen sie auf das Selbstwertgefühl haben können“. Die „riesige Resonanz in den sozialen Medien“, die Oliveria erhielt, „machte ihr den Bedarf für eine solche Ausdrucks-Plattform klar“.[20] Ermöglicht wurde die Realisierung von (More Than) Dust durch eine Kampagne auf Kickstarter.

Es ist interessant, die neuen Möglichkeiten und Strategien kollektiver Heilung zu beobachten, die durch digitale Plattformen ermöglicht werden, die mit grundlegend anderen Strukturen arbeiten als gedruckte Bücher, welche dadurch jedoch nicht weniger wichtig werden und ähnliche Popularität erlangen können wie Websites, Facebook-Gruppen oder Instagram-Accounts. Was Büchern aber fehlt, ist die „Viralität“, die organische und ständige Weiterentwicklung, die digitalen Plattformen eigen ist.[21] Das zentrale Anliegen von Tarana Burkes Me-Too-Bewegung, wie sie in ihrem bewegenden TED-Talk ausführt, ist der Fokus auf Inklusivität und die „Kollektivierung“ von Trauma und Heilung. „Trauma“, erklärt sie, „setzt Möglichkeiten ein Ende, während Bewegungen Möglichkeiten schaffen“. Trotz der Tatsache, dass sich immer mehr Menschen der Bewegung anschliessen, empfindet sie ein Gefühl der „Taubheit“ gegenüber Tätern, die die Glaubwürdigkeit der Frauen leugnen und weiterhin fest auf ihren Machtpositionen sitzen und ihre Privilegien behaupten, und angesichts des Versuchs der Medien, die Aufmerksamkeit von den Frauen abzuwenden und stattdessen die Bewegung zunehmend als eine Art „Geschlechterkrieg“ darzustellen, als „Rachefeldzug gegen die Männer“. Daher auch ihre Mission, die Me-Too-Bewegung statt zu einer „Hexenjagd“ zu einem universellen und kollektiven Kampf für die „weitreichende Kraft des Mitgefühls“ zu machen, für eine Welt ohne sexuelle Gewalt, in der alle betroffen sind und das Trauma kollektiv ist, da „jeder Mensch hat das Recht, mit seiner ganzen Menschlichkeit intakt durch dieses Leben zu gehen.“

Darüber hinaus eignen sich digitale Plattformen besser dazu, Minderheiten eine Stimme zu geben, die laut der in Burkes Rede erwähnten Statistik sogar noch gefährdeter sind und seltener Zugang zur traditionellen Verlagsbranche mit ihren Druckerzeugnissen haben, ohne Vermittler_innen, die wiederum zwangsläufig in ihrem Namen sprechen würden. Indem sie sich an cis-Frauen, trans-Frauen und Frauen mit nicht-binären Identitäten wendet, allesamt Frauen mit Missbrauchserfahrung, hat Oliveria ein Foto-Text-Buch produziert, das ein grosses Spektrum an geteilten Erfahrungen mit Frauenfeindlichkeit abbildet, von sexueller Belästigung über Beleidigungen bis hin zu emotionalem und körperlichem Missbrauch. „Durch das Anhören ihrer Geschichten und das Fotografieren dieser Frauen wurde mir klar, dass diese Gefühle, Sätze und Erfahrungen universell und verletzend sind.“[22] Oliveira hat ihr persönliches Trauma in ein Buch verwandelt, das das Ergebnis eines kollektiven weiblichen Heilungsprozesses ist, der in dieser Form nur dank digitaler Plattformen möglich ist.

Buchseiten aus Jamie Oliveira, (More Than) Dust. Alle Screenshots von der Autorin.

In (More Than) Dust sind die verächtlichen Worte, die die Unterdrücker zu ihren Opfern sagen, von klugen und teils witzigen Stillleben umgeben, die so als obsessiver visueller Rahmen der Texte dienen. Auf der gegenüberliegenden Seite ist jeweils das Porträt einer jungen Frau mit nacktem Oberkörper zu sehen, wobei die Frauen abwechselnd ihre Brüste zeigen und verdecken. Der Satz „Wenn du so weitermachst, wird dich nie jemand heiraten“ wird von einem Bild hellvioletter Blumen umrahmt und dem Porträt einer nackten jungen Frau gegenübergestellt, die ratlos oder besorgt aussieht. Der Satz „Ich könnte leicht eine Bessere finden“ wird vom Bild zweier Sex-Puppen umrahmt und dem Porträt einer nackten jungen Frau mit leichtem Übergewicht und hängenden Brüsten gegenübergestellt. Der manipulative Satz „Du bringst mich dazu, dich so zu behandeln“, der an das Freud’sche Vertuschungsmanöver erinnert, wird in der Mitte eines Bildes von Boxhandschuhen gezeigt. Die heuchlerische Warnung „Tu jetzt nichts, was den Ruf deines Vaters ruinieren könnte“ ist von Stillleben von Kondomen umgeben, dem Bild einer weiteren jungen nackten Frau gegenübergestellt, die ihre Brüste verdeckt und ein grosses Tattoo auf einem ihrer Arme hat. Der Schlankheitswahn wird mit dem Satz „Für ein dickes Mädchen bist du ziemlich hübsch, aber wenn du etwas abnehmen würdest, wärst du noch hübscher“ adressiert, der verstörende Rahmen des Textes ist die Abbildung unzähliger roter und weisser Pillen.

Das Gefühl von Angst, Manipulation, Klaustrophobie und Gewalt erreicht seinen Höhepunkt in der Gegenüberstellung zweier Sätze: „Du brauchst deine Familie nicht, du hast mich“, in der Mitte eines Fotos von zwei Bilderrahmen mit Porträts von Familienmitgliedern, während man auf der gegenüberliegenden Seite ein Foto der gleichen Rahmen sieht, jetzt aber zerbrochen, mit dem unheilvollen Satz „Wenn du nochmal mit ihnen sprichst, werde ich dir wehtun“.

Durch die Zusammenarbeit mit einer Gemeinschaft von Frauen, die ein starkes Interesse daran hatten, von ihren Erfahrungen zu berichten, ist Oliveira eine zeitgenössische Erzählung über Solidarität gelungen. Anders als Oursler greift Oliveira nicht auf veröffentlichtes Material aus der Presse zurück, sondern nutzt eigene Bilder, vielleicht auch begünstigt durch die Allgegenwärtigkeit und Zugänglichkeit digitaler Fotografie und ihrer viralen Verbreitung über die sozialen Medien, einschliesslich der gegenwärtigen Selfie-Welle. Ihr Interesse richtet sich stärker auf subjektive Erinnerungen an schmerzhafte Erfahrungen, und anstatt vorgefundene Bilder der Opfer zu verwenden, fotografiert sie lieber selbst intimere Porträts, wobei die Frauen in ihrer ganzen Verletzlichkeit und mit grosser Würde dargestellt werden. Da die meisten der in Un album di violenza porträtierten Opfer bereits tot waren, hatte Oursler freilich keine andere Wahl, als auf vorgefundene Bilder zurückzugreifen, was den Lesarten von Oliveiras Buch eine weitere Bedeutungsebene hinzufügt: Dass es nämlich entscheidend ist, über die Gefährdung von Frauen nachzudenken, bevor es zu spät ist, und nach Wegen ihrer Ermächtigung zu suchen.

Wenn in Un album di violenza die Texte die Bilder stark überwiegen, mit dem beklemmend tragikomischen Effekt, der durch die handschriftliche Angabe der fast surrealen Begründungen von Gewalt in der Verbindung mit dem offiziellen Porträt des Opfers entsteht, das durch die Zirkulation in der Presse bereits eine kühlere objektive Aura angenommen hat, scheint die Dynamik in (More Than) Dust fast umgekehrt zu funktionieren. Das Visuelle überwiegt, der Text wird als Bild behandelt, und die sarkastische Wirkung entsteht durch die Spannung zwischen den verstörenden Sätzen und den originellen Stillleben, die sie rahmen.

Andy Stafford betont in seiner Untersuchung von Foto-Texten eine wichtige Parallele zwischen der Distanz von Fotograf_in und Fotografiertem, die David Levi Strauss als eminent politisches Thema bezeichnet, und der Distanz zwischen visueller und verbaler Repräsentation, die W.J.T. Mitchell als „nicht trennbar von den Kämpfen der Kulturpolitik und der politischen Kultur“ beschreibt.[23] An diese Parallele zwischen zwei Arten von Distanz will ich mit zwei Bemerkungen anschliessen. Erstens: Oursler ist nicht die Fotografin der abgebildeten Frauen und fiktionalisiert darüber hinaus die angeblichen Gründe für die Gewalt gegen diese Frauen mit handgeschriebenen vermeintlichen und absurden „Rechtfertigungen“, die sich nicht auf das abgebildete Opfer beziehen, sondern den in der italienischen Presse zitierten Aussagen von Tätern vor Gericht entnommen sind. Dieser Eingriff vergrössert die Distanz zwischen Fiktion und Wirklichkeit und verdeutlicht, wie Misshandlungen nicht in der Erzählung von Einzelfällen aufgehen. Wie surreal und unheimlich die möglichen Begründungen von Gewalt ausfallen, vergrössert wiederum die Distanz zwischen der Kategorie der Gewalt selbst und jedem Versuch ihrer Rechtfertigung, der nur inakzeptabel und vergeblich ausfallen kann. Diese doppelte Distanz ist die Stärke von Ourslers politischer Intervention. Zweitens: Oliveira fiktionalisiert die visuelle Darstellung verbalen Missbrauchs mit der Rahmung der abscheulichen Sätze durch originelle Stillleben, mit einem ähnlichen Effekt wie bei Oursler, nämlich dem Spott über den Versuch der Rationalisierung von Gewalt, während gleichzeitig die manipulativen psychologischen Mechanismen in den perversen Köpfen der Täter freigelegt und seziert werden.

In ihrer Einführung zu Un album di violenza unterscheidet die Psychoanalytikerin Manuela Fraire zwischen drei verschiedenen Arten,[24]wie Gewalt im Laufe der Geschichte mystifiziert wurde. Die erste nennt sie „religiös/teilnehmend“ und bezeichnet damit die Identifikation mit dem Opfer und die Obsession, den Schuldigen zu finden, den „unmenschlichen Täter“, dessen Existenz die Existenz von Gerechtigkeit garantiert, da er bestraft werden wird, um die soziale Ordnung wiederherzustellen. Die zweite Art der Mystifizierung von Gewalt nennt sie die „soziologische/unpersönliche“, bei der Gewalt als kühles Phänomen behandelt wird, als Folge sozialer Widersprüche, ohne jegliche persönliche Geschichte, als Phänomen, das statistisch untersucht werden muss und meist bloss auf sozial abweichendes Verhalten zurückzuführen ist. Für den dritten Typus bezieht sich Fraire auf „die revolutionäre Anwendung von Gewalt“ und zitiert Frantz Fanons Buch Die Verdammten dieser Erde, in dem den Kolonisierten und Unterdrückten im Kampf gegen die Kolonialherren die Anwendung genau jener Gewalt zugestanden wird, die sie zum Opfer gemacht hat. Fraire zieht eine Parallele zwischen der gesellschaftlichen Stellung von Frauen und der von Schwarzen in unserer von Weissen dominierten Gesellschaft, da in beiden Fällen die Biologie zur Behauptung ihrer Unterlegenheit herangezogen wird. Sie betont jedoch einen grundlegenden Unterschied: Auch wenn Männer und Frauen das gleiche revolutionäre Projekt der Befreiung von Unterdrückung zu verfolgen scheinen, ist der Kampf zur Befreiung eines Volkes nicht das Gleiche wie der Kampf zur Befreiung der Frauen, die nach der Revolution, wieder in ihre passive, diskriminierende Rolle zurückgedrängt werden. Sobald die soziale Ordnung wiederhergestellt ist, verlagert sich die Gewalt, die zuvor auf den Strassen stattfand, wieder zurück in den häuslichen Bereich. In gewisser Weise gibt es in der Geschichte der Frauen gar kein Kapitel über Gewalt. [25] „Gewalt ist das eine Element, das alle Frauen auf der Welt vereint“, schreibt Fraire in ihrer Einleitung mit dem Titel „Better Dead Than Absent?“. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Unterdrückung von Frauen in Ourslers Buch unabhängig von sozialen Klassenunterschieden dargestellt wird, da sie die Objektivität der Dokumente aus der italienischen Presse in eine subjektive, universellere Erzählung überführt, in der die Gräfin und das Dienstmädchen auf die gleiche Weise ermordet werden. Allerdings schliesst sie durch die Auswahl von zwölf Fällen heterosexueller italienischer weisser Frauen solche Frauen anderer sexueller Orientierungen und Ethnien aus, die jedoch mit Abstand zu den am stärksten unterdrückten Menschen in europäischen Ländern gehören. Indem Oliveira in ihrem Buch auch die Verletzungen einbezieht, die sowohl cis- und trans-Frauen als auch nicht-binäre Menschen erlitten haben, spricht sie eine im Vergleich zu Oursler vielfältigere Gemeinschaft von Missbrauchsopfern an, mit ihren gemeinsamen Erfahrungen mit Frauenfeindlichkeit, und setzt sich für deren Rechte ein.

Um auf das von Khairani Barokka in der Photographers’ Gallery angesprochene Thema zurückzukommen, das ich eingangs erwähnte, stellt sich mir als weisse westliche Frau, die bisher ein recht privilegiertes Leben geführt hat und möglicherweise auch schon diesen belasteten roten Palmenöl-Lippenstift als Zeichen einer behaupteten und stellvertretenden Emanzipation aufgetragen hat, doch die Frage: auch wenn es mir als dringlich erscheint, Gewalt gegen Frauen anzuprangern und scripto-visuelle Projekte zu feiern, die kanonische und mystifizierende Zugänge zu Gewalt infrage stellen, was gibt mir das Recht dazu? Die Frage des Anrechts bleibt virulent, ebenso wie die Notwendigkeit, den Blick stärker auf sogenannte Minderheiten zu richten und sie einzuladen, ihre eigenen Geschichten zu erzählen, was durch digitale Plattformen erleichtert werden kann, wie Oliveira so eindrücklich gezeigt hat.

Aus dem Englischen von Cornelius Reiber.

REFERENZEN

[1] Siehe auch Eric Wakker/ Friends of the Earth, „Greasy Palms: The Social and Ecological Impacts of Large-Scale Oil Palm Plantation Development in Southeast Asia“, 2005, friendsoftheearth.uk/sites/default/files/downloads/greasy_palms_impacts.pdf (alle in diesem Essay zitierten URLs wurden am 3. Mai 2019 aufgerufen).

[2] Für ein besseres Verständnis der Rolle und der Aufgaben des UN-Sonderberichterstatters zu Gewalt gegen Frauen siehe Dubravka Šimonovics Erklärung auf der 62. Tagung der Kommission der Vereinten Nationen zur Rechtsstellung der Frau (CSW) vom 12. März 2018: ohchr.org/Documents/Issues/Women/SR/StatementCSW12March2018.pdf.

[3] Für eine besonders fesselnde Darstellung des erstaunlichen Lebens der Mirabel-Schwestern empfehle ich Julia Álvarez' Roman Die Zeit der Schmetterlinge aus dem Jahr 1994.

[4] Vgl. Weltgesundheitsorganisation: who.int/news-room/fact-sheets/detail/violence-against-women. Zu den Herausforderungen bei der statistischen Erfassung von Gewalt gegen Frauen siehe Sally Engle Merry, „Cultural Dimensions of Power/Knowledge: The Challenges of Measuring Violence against Women“, in Sociologie du Travail 58 (4), 2018, 370–380, journals.openedition.org/sdt/915.

[5]Rebecca Solnit, Wenn Männer mir die Welt erklären, Hamburg: Tempo Verlag, 2017, 16.

[6] Ebd., 103 (meine Betonung).

[7] Ebd., 147.

[8] Ebd., 148.

[9] Zitiert in ebd.

[10] Judith Herman, Die Narben der Gewalt: Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden, Paderborn: Junfermann, 2003. Vgl. auch Judith Herman, Father-Daughter Incest, Cambridge: Harvard University Press, 1981, und Jeffrey Moussaieff Masson, The Assault on Truth: Freud's Suppression of the Seduction Theory, New York: Farrar, Straus and Giroux, 1984. Freud schrieb bekanntlich in Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933): „In der Zeit, da das Hauptinteresse auf die Aufdeckung sexueller Kindheitstraumen gerichtet war, erzählten mir fast alle meine weiblichen Patienten, daß sie vom Vater verführt worden waren. Ich mußte endlich zur Einsicht kommen, daß diese Berichte unwahr seien, und lernte so verstehen, daß die hysterischen Symptome sich von Phantasien, nicht von realen Begebenheiten ableiten.“ Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Und neue Folge. Studienausgabe Bd. 1, Frankfurt a. M.: Fischer, 1969, 551.

[11] ‘Scripto-visuellel’ Form ist ein von Victor Burgin in den 1970er Jahren eingeführter Begriff. Vgl. dazu mein Interview mit ihm für die Aperture PhotoBook Review, 016, April 2019. Roland Barthes, „Rhetorik des Bildes“, In: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990, 34.

[12] Sergej Eisenstein, „Montage 1938”, in: Gesammelte Aufsätze I, Zürich: Arche, 1961, 232.

[13] Khairani Barokka, Indigenous Species, London: Tilted Axis Press, 2016, o.S.

[14] Siehe auch Raffaella Pernas Besprechung des Buches in Aperture PhotoBook Review, 016, April 2019, sowie ihren Essay „Immagini del No e Un Album di Violenza: Il Femminismo italiano in due libri fotografici degli anni settanta“ für den Katalog des italienischen Fotofestivals Fotografia Europea, erschienen 2018 im Silvana Editoriale Verlag. Ourslers Buch ist auch ein Abschnitt in Gerry Badger/Martin Parr, The Photobook, A History Volume III, London: Phaidon Press, 2014, gewidmet.

[15] Piero Macri, „L’informazione ansiogena dei TG italiani“, in European Journalism Observatory, 22. Februar 2010, it.ejo.ch/cultura-professionale/linformazione-ansiogena-dei-tg-italiani.

[16] Walter Benjamin, Gesammelte Schriften II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991, 693.

[17] Ich möchte Gerry Badger und Sonia Lenzi für ihre grosszügige Hilfe danken, die mir Teile eines noch unveröffentlichten Interviews mit Stephanie Oursler zugänglich machten, das sie mit ihr kurz vor ihrem Tod führten.

[18] Stephanie Oursler, Un album di violenza, Roma: Edizioni delle Donne, 1976.

[19] Jamie Oliveira, (More Than) Dust, CreateSpace Independent Publishing Platform, 2016, o.S., und Sarita Tanori, „(More Than) Dust Empowers Women through Photography“, in Huffpost.com, 26. Juli 2016, in Huffpost.com, 26. Juli 2016, huffpost.com/entry/more-than-dust-empowers-women-through-photography_b_579815d9e4b0e002a3145283.

[20] Ebd.

[21] In der Tat referenziert das Adjektiv „viral" auf die schnelle und weite Verbreitung eines Bildes, Videos, einer Information etc. im Internet.

[22] Sarita Tanori, „(More Than) Dust Empowers Women through Photography“, siehe Fussnote 19.

[23] Andy Stafford, Photo-Texts. Contemporary French Writing of the Photographic Image, Liverpool: Liverpool University Press, 2010, 37.

[24] Manuela Fraire, “Better Dead Than Absent?”, in Oursler, An Album of Violence, siehe Fussnote 18.

[25] Diese Überlegung lässt sich auch an Silvia Federicis bahnbrechende Studie Caliban und die Hexe anschliessen, die den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus als einen Prozess nachzeichnet, der vor allem durch die Unterwerfung von Frauen durch die Verfolgung von Hexen und die Disziplinierung des Körpers ermöglicht wurde. Siehe Silvia Federici, Caliban und die Hexe: Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation, Mandelbaum Verlag: Wien, 2012.