Adji Dieye – Aphasia
In ihrer künstlerischen Praxis beschäftigt sich die in Zürich und Dakar, Senegal, lebende italienisch-senegalesische Künstlerin Adji Dieye (*1991) mit den Themen Postkolonialismus und Nationalstaatenbildung. Dabei untersucht sie aus einer afrodiasporischen Perspektive, welche Rolle Sprache und der urbane Raum in der Geschichtsschreibung spielen und hinterfragt diese als lineare Abfolge von Ereignissen kritisch. Im Mittelpunkt von Dieyes Ausstellung steht die Videoinstallation Aphasia (2022), die während eines mehrmonatigen Forschungsaufenthalts in Dakar eigens für das Fotomuseum Winterthur produziert wurde. Die Arbeit gibt afrodiasporischen Communitys und Schwarzen Identitäten eine Stimme und erlaubt ihnen, sich als Teil eines lebendigen Archivs zu artikulieren.
Der Verlust von Sprache bildet die konzeptuelle Ausgangslage der transdisziplinären Arbeit Aphasia. In einer Sprachperformance an verschiedenen öffentlichen Orten in Dakar bemüht sich die Künstlerin darum, sich auf Französisch, der offiziellen, von der früheren Kolonialmacht eingeführten und dem Land aufgezwungenen Sprache, auszudrücken, die nur ein Teil der Bevölkerung in ihrer institutionellen Form tatsächlich versteht. Als vermeintlich neutrale Sprache fungiert Französisch seit der Unabhängigkeit des Senegal weiterhin als Verkehrssprache in Wirtschaft, Politik und Bildung – womit die koloniale Sprache ihren historischen Platz nicht räumt, den sie im letzten Jahrhundert mit dem Verdrängen der einheimischen Sprachen des Landes für sich reklamiert hat.
Während sich die städtischen Schauplätze in Aphasia verändern, entwickelt sich auch die Klangfarbe der Stimme im Video, bis es nicht mehr die Künstlerin selbst ist, die spricht, sondern vielmehr eine Vielzahl an Stimmen – diejenigen von Freund_innen und Menschen mit ähnlicher Herkunft –, die Dieye im Zuge der Nachbearbeitung hinzufügte. Dieyes künstlerische Untersuchung lädt somit dazu ein, den diasporischen und lokalen Communitys, mit denen die Künstlerin aufgrund ihrer eigenen Herkunft eng verbunden ist, aktiv zuzuhören.
Wenngleich der Verlust der Sprache den konzeptuellen Ausgangspunkt von Aphasia bildet, entfaltet sich die Arbeit zu einer Klanglandschaft, die sowohl der afrodiasporischen Gemeinschaft als auch der senegalesischen Verwandtschaft der Künstlerin Handlungsmacht und eine Stimmkraft verleiht. So entsteht ein polyphoner Kanon, der Schwarzen Identitäten und Spiritualitäten den Weg freimacht, selbst als lebendiges Archiv in Erscheinung zu treten.
HANDOUT ZUR AUSSTELLUNG
GLOSSAR
Das Ausstellungsprojekt wurde im Rahmen von Photographic Encounters entwickelt, einem biennalen Format, mit dem das Fotomuseum Winterthur in Zusammenarbeit mit dem Christoph Merian Verlag eine_n Fotograf_in oder Künstler_in bei der Realisierung einer Ausstellung sowie einer Publikation begleitet und damit die Umsetzung und Präsentation eines fotografischen Langzeitprojekts unterstützt. Adji Dieye wurde für die erste Ausgabe ausgewählt.
Das Format Photographic Encounters wurde durch die Christoph Merian Stiftung initiiert, ermöglicht durch die Geissmann Scholarship for Photography.