Case Study: Teresa Margolles und Fernando Brito

Text und Recherche: Matthias Pfaller

2012 zeigte das Fotomuseum Winterthur die Ausstellung STATUS – 24 Dokumente von Heute, die den Status des fotografischen Bildes als Wahrheits- und Informationsträger befragte und seine ureigenen Mechanismen als Teil unseres heutigen multimedialen Umfelds untersuchte. Eine der in STATUS gezeigten Serien war Front Pages of La i des mexikanischen Künstlers Fernando Brito (*1975). Brito arbeitete als Fotojournalist in der nordmexikanischen Stadt Culiacán in der Nähe der Pazifikküste, wo die Tageszeitung La i regelmässig seine Fotografien von Strassenmorden veröffentlichte, die im Zusammenhang mit dem organisierten Verbrechen standen. Die Ausstellung zeigte sechs zwischen 2005 und 2008 erschienene Ausgaben mit Bildern von Brito auf der Titelseite. Im Gegensatz zu vielen seiner Kolleg_innnen geht Brito bei der Berichterstattung über die ausufernde Gewalt in seiner Stadt einen anderen Weg, indem er die ermordeten Menschen auf eine würdevolle Weise abbildet.

Ebenfalls im Jahr 2012 und im Zusammenhang mit der Fragestellung der Ausstellung STATUS erwarb das Museum das Kunstwerk PM 2010 der mexikanischen Künstlerin Teresa Margolles (*1963). In einem voluminösen Buch, eingekleidet in eine schwarze Hülle, hat Margolles 313 Titelseiten der Tageszeitung PM aus Ciudad Juárez, einer mexikanischen Stadt an der Grenze zu den Vereinigten Staaten, zusammengestellt. Die Titelseiten wurden während des Jahres 2010 veröffentlicht, in dem Drogenbanden und Polizei allein in dieser Stadt mehr als 3’000 Menschen töteten und das als das gewalttätigste Jahr im mexikanischen Drogenkrieg in die Geschichte einging. Dementsprechend zeigen die Titelseiten von PM grausame Tatorte mit oft explizitem Inhalt. Margolles’ Sammlung der Zeitungen ist nicht nur zu einem Archiv dieser Ereignisse geworden, sondern auch zu einer Befragung über die politischen Strukturen der Drogengewalt und die Darstellung des Todes.

Die beiden Werke aus der Sammlung des Fotomuseum Winterthur thematisieren die unerträgliche Grausamkeit und das Leid, das mit dem Verbrechen in Mexiko verbunden ist. Sie arbeiten mit sehr verschiedenen künstlerischen Strategien und werfen unterschiedliche ethische Fragen auf, wobei sie uns immer auch daran erinnern, dass dies der Alltag der Menschen in Culiacán und Ciudad Juárez gewesen ist. Als Schweizer Museum stellen wir uns daher die Frage, wie wir dieses Material angemessen ausstellen können. Wie finden wir einen ethischen Umgang mit den Bildern, der die ermordeten Menschen und ihre Angehörigen respektiert? Inwieweit wird die dargestellte Brutalität durch die museale Präsentation neutralisiert oder gar ästhetisiert und einem voyeuristischen Blick unterworfen? Auch die Vermittlung der konkreten Lebensrealität in Mexiko stellt eine Herausforderung für die Kontextualisierung und Präsentation der Werke dar. Welche Art von Informationen müssen wir kuratorisch wie vermittlerisch bereitstellen, damit unsere Besucher_innen das, was sie sehen, in ihren komplexen Zusammenhängen verstehen können?

Diese Case Study untersucht Front Pages of La i und PM 2010 aus verschiedenen Blickwinkeln: ihre materielle Zusammensetzung, die Themen, die die Werke ansprechen, der Kontext der künstlerischen Praxis, die kulturellen und politischen Debatten, in die sie eingebettet sind, die Präsentation in einem Museum und ihre Rezeption in Europa. Von besonderem Interesse sind dabei die Formate der Zeitung und des Fotojournalismus, z.B. wie Britos Arbeit von seiner beruflichen Praxis bestimmt wird und wie Margolles die Methode der Appropriation (Aneignung) einsetzt, um alltägliches Material in Kunst und schliesslich in ein Archiv zu verwandeln. Darüber hinaus thematisieren wir in den Werken explizit die Themen Tod, geschlechtsspezifische Gewalt, Körper und Drogenkultur. In Anbetracht des Auftrags eines Fotomuseums stellen wir uns die Frage, wie wir Bilder von Gewalt ausstellen und welche Art von diskursiven Praktiken sie erfordern. Wir betrachten Front Pages of La i und PM 2010 nicht als lokale mexikanische Phänomene, sondern reflektieren über die geopolitische Struktur des globalen Kapitalismus, des Neoliberalismus und der Kolonialität, die die Schweiz direkt mit der Situation in Culiacán und Ciudad Juárez verbindet.

Indem wir Künstler_innen, Expert_innen und Teilnehmer_innen aus verschiedenen Bereichen einladen, über diese Themen zu sprechen, vervielfältigen wir die Perspektiven auf die Werke in unserer Sammlung. Wir lassen verschiedene Stimmen zu Wort kommen, um eine einseitige kuratorische Haltung zu vermeiden und stattdessen mehrere Möglichkeiten aufzeigen, wie diese Werke diskutiert und ausgestellt werden können.

WARNUNG: Diese Präsentation enthält Bilder mit expliziter Gewaltdarstellung.

Beschreibung der Werke

Fernando Britos Arbeit Front Pages of La i in der Sammlung des Fotomuseums Winterthur besteht aus Exemplaren der Tageszeitung La i aus Culiacán, auf deren Titelseiten zwischen 2005 und 2008 Britos Arbeit als Fotojournalist erschien. So sehen wir seine Bilder in einem angewandten Kontext, in dem sie die spezifische Funktion haben, Nachrichten zu illustrieren und einem grossen lokalen Publikum zu vermitteln. Die Schlagzeilen über die Morde werden von anderen Nachrichten eingerahmt, seien es Belanglosigkeiten wie Jennifer Anistons Schönheitsgeheimnisse und cholesterinfreie Rezepte oder ernstere Themen wie Berichte über festgenommene Verbrecher und eine Einführung in die mexikanische Verfassung.

Bevor Brito als Fotojournalist arbeitete, interessierte er sich nach eigener Aussage nicht für die Geschehnisse in seiner Heimatstadt. Durch das Fotografieren der Tatorte begann er jedoch, die Komplexität der Morde zu verstehen, die in die Strukturen des organisierten Verbrechens eingebettet und meist auch mit der Regierung verstrickt sind. Dennoch konnte er nicht frei arbeiten, sondern war an ungeschriebene Regeln gebunden, was veröffentlicht werden darf und was nicht. Er sagt, dass «der Journalismus in Sinaloa so still ist, weil es definitiv höhere Mächte gibt, die uns zum Schweigen bringen». Aus Angst, aufgespürt und getötet zu werden, entwickeln sich Berichte über Verbrechen nie zu grösseren journalistischen Recherchen und bleiben somit eine reine Chronik der Ereignisse. Darüber hinaus ist es die selbsterklärte Mission von La i, familienfreundlich zu sein und nicht explizit Leichen abzubilden, wie es in anderen Boulevardzeitungen üblich ist. Hinzu kommt, dass es sich um ein lokales Publikum handelt, was bedeutet, dass die Nachrichten einen direkten Einfluss auf das Leben der Leser_innen haben, da die Ermordeten Teil ihrer Gemeinde sind. Wenn er seine Arbeit mit der anderer Fotograf_innen vergleicht, äussert sich Brito eindeutig zu seiner Ethik: «Sie können ihre Hardcore-Fotos haben, aber das ist nicht das, was ich zeigen möchte, das ist nicht das, was ich den Familien der Ermordeten zeigen möchte. Wir müssen Respekt haben, und das ist die Verantwortung eines jeden Fotografen». Seine Fotos konzentrieren sich daher auf Details oder die Szene rund um die Leiche und zeigen die toten Menschen fast nie ganz. Sie sind keine forensischen Beweise, sondern erzählen die Geschichten rund um den Mord, mit der ermittelnden Polizei, den Angehörigen, die sich versammeln und gemeinsam weinen und Blumen niederlegen. Britos Haltung kommt aus einem tiefen Mitgefühl mit den Opfern und ihren Familien: «Ich bin keine Maschine, und diesen Schmerz zu sehen, berührt mich». Gerade diese persönliche Verbindung steht als Gegensatz zur üblichen Rezeption von Kriminalberichten in der mexikanischen Gesellschaft, wo die getöteten Menschen in der Regel als Schuldige betrachtet werden, da die Annahme gilt, dass sie etwas Schlimmes getan haben müssen, um ihr Schicksal verdient zu haben.

Mit seinen Tatortfotos hat Brito den zweiten Platz bei den Sony World Photography Awards (2012) und den dritten Platz beim World Press Photo Award (2011) belegt. Darüber hinaus wurden seine Arbeiten auf Kunstfestivals wie PhotoEspaña und in kommerziellen Kunstgalerien gezeigt. Für Brito bedeutete dieser Erfolg anfangs ein tiefes moralisches Dilemma, da er das Gefühl hatte, dass seine Arbeit oft nur unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet wurde und er vom Tod anderer Menschen profitiere. Schliesslich ist er jedoch zu dem Schluss gekommen, dass sein Ruhm eine moralische Verpflichtung bedeutet, die soziale und politische Situation durch seine Arbeit weiterhin anzuprangern (Informationen und Zitate in diesem und dem vorigen Absatz stammen aus Migues, Testigos presenciales).

Das Werk PM 2010 von Teresa Margolles ist dem von Brito formal sehr ähnlich. Es handelt sich um eine Sammlung von Titelseiten der Zeitung PM aus Ciudad Juárez, die in Gestaltung und Inhalt La i ähneln. Fotografien von Tatorten bestimmen die Schlagzeilen, umgeben von Bikinimodels und Belanglosigkeiten. Margolles’ Arbeit ist jedoch insofern konzeptioneller, als die Künstlerin in keiner Weise selbst an der Produktion der Zeitung beteiligt war, sondern jede Titelseite des gesamten Jahres 2010 sammelte und die einzelnen Seiten in zwei Formate überführte, einmal in eine massive, wandfüllende Präsentation aus gerahmten Titelseiten und einmal in ein gebundenes Buch, von dem sich ein Exemplar in der Sammlung des Fotomuseums Winterthur befindet.

Die Boulevardzeitung PM ist allgegenwärtig. Sie wird auf Plätzen und an Strassenecken in der ganzen Stadt verkauft und wird vielfältig verwendet, vom Einwickeln von Lebensmitteln bis hin zum Basteln von Piñatas. Margolles sagt: «PM ist sehr populär, aber auch wenn man sie nicht lesen will… man kann sie anfassen, man kann sie sehen. Es ist unmöglich zu verneinen, was in der Gesellschaft passiert». Trotz der weiten Verbreitung und Rezeption der Zeitung ist Margolles’ Sammeltätigkeit wichtig, da das Material gleichzeitig sehr vergänglich ist. Die Zeitung selbst ist nach nur einem Tag veraltet, und der Verlag führt kein Archiv und vernichtet nicht verkaufte Exemplare nach drei Monaten. So wird PM 2010 zu einem Archiv des gewalttätigsten Jahres der jüngeren Geschichte im Norden Mexikos mit einer überwältigenden Fülle von Details und einer grossen Nähe zur Lebenswirklichkeit der Menschen: «Es war unser tägliches Leben. Es war das, womit man aufgewacht ist, womit man gelebt hat, womit die Menschen in Juárez gefrühstückt haben und zur Schule gegangen sind. Während du schliefst, geschah das an einem anderen Ort».

Die Fotos, die in PM erscheinen, unterscheiden sich deutlich von denen, die Brito in La i veröffentlicht hat. Die Tatorte sind ähnlich, aber PM hat sich für Bilder entschieden, die die toten Menschen in Nahaufnahme und in grausamen Details zeigen, oft isoliert von der grösseren Umgebung mit Polizist_innen und Angehörigen. Das Grauen der Morde wird in seinem schmerzhaftesten und – problematischerweise – spektakulärsten Moment offengelegt. In einem Interview aus dem Jahr 2014 reflektiert Margolles über dieses Werk: «PM ist für mich ein sehr schwieriges Werk. Es fällt mir schwer zu glauben, dass das wirklich passiert ist … Es erscheint mir wie eine Fiktion». Die Unerträglichkeit der Gewalt wird mit der Distanz unfassbar, doch trotz der sensationslüsternen Berichte der Zeitung bleiben die Morde eine allgegenwärtige Realität. Margolles übernimmt die gesamte Titelseite der Zeitung und verändert oder zensiert kein einziges Detail. Die reisserische Sprache und die Bilder üben so weiterhin ihre Wirkung auf die Betrachter_innen der Arbeit aus, doch mit einer gewissen Distanz zu den Ereignissen lenkt sie die Aufmerksamkeit auf den Diskurs selbst. Ähnlich wie Brito hat sie Bedenken zu ethischen Implikationen dieser Praxis, kommt aber zu demselben Schluss: «Manchmal möchte ich kein Blut verwenden, so direkt sein, aber es ist notwendig.» (Die Informationen und Zitate in diesem und dem vorherigen Absatz stammen aus Margolles, «El cadáver», ABC Cultural).

Autor_innenschaft, Appropriation, Kommerz

Früher hat Brito als professioneller Fotojournalist gearbeitet, heute ist er als Kunstfotograf tätig. Er beansprucht daher die Urheberschaft für seine Fotografien. Bei der Anfertigung seiner Arbeiten wendet er grosse Sorgfalt auf die Konstruktion der Bilder an. Brito manipuliert seine Fotografien nie, indem er Gegenstände oder Personen verschiebt. Er wählt bestimmte Blickwinkel und rahmt die Szenen so ein, dass die Elemente aufgenommen werden, die für seine Absicht, eine Geschichte zu erzählen, wichtig erscheinen.

Nach der Aufnahme der Fotos bieten Britos zwei Berufe unterschiedliche Möglichkeiten. Als Künstler kann er entscheiden, wie seine Fotos präsentiert werden. Als Fotojournalist hingegen hat er nur begrenzte Kontrolle darüber, wie seine Arbeit in den Nachrichten kontextualisiert wird. Auch das Publikum ist sehr unterschiedlich. Während es in Ausstellungen in Galerien und Museen auf eine begrenzte Anzahl von Menschen mit bestimmten Interessen und sozialem Hintergrund beschränkt bleibt, wurden seine Fotos in La i von Tausenden von Menschen aus seiner Heimatstadt gesehen, in der sich die Ereignisse ereigneten. Als der damalige Co-Direktor und Sammlungskurator Thomas Seelig das Werk für das Museum erwarb, stellte sich daher die Frage, ob der Kern von Britos Arbeit darin besteht, «Bilder für die Wand» oder «Bilder in ihrem ursprünglichen Kontext und Gebrauch» zu produzieren. Nach einer Diskussion mit dem Künstler wurde das Werk schliesslich in Form der aktuellen Zeitungen ausgestellt (aus einem Gespräch mit Thomas Seelig).

Auf diese Weise verschmelzen Britos künstlerische und journalistische Praxis, und der Status der Fotografien als Kunst überlappt mit der Alltäglichkeit der Zeitung. Trotz Britos Position als Schöpfer der Fotografien ist die Frage der Urheberschaft also komplizierter und muss als multipel betrachtet werden. Eingebettet in die Zeitung wird die Bedeutung der Fotografien durch ihren Kontext erweitert, während gleichzeitig Britos Position als Autor beeinflusst, wie das Publikum die Berichte wahrnimmt.

Ähnlich zwiegespalten behaupten einige Kritiker_innen, dass Margolles «eher wie eine Journalistin als wie eine Künstlerin» agiert, da sie die Nachrichten aus Ciudad Juárez an ein grösseres Publikum weitergibt und es so über die aktuelle Situation in Mexiko informiert. Doch obwohl sie für PM 2010 alle Zeitungscover eines Jahres gesammelt hat, beschränkt sie sich auf die Strategie der Appropriation ohne weiteren künstlerischen Eingriff. Sie ist nicht die Autorin, die entscheidet, wie sie die Morde darstellt und beschreibt. Anstatt selbst an der Darstellung der Nachrichten beteiligt zu sein, hinterfragt sie die Art und Weise, wie die Nachrichten produziert werden, d.h. sie tritt einen Schritt zurück, um ein Nachdenken über die Gesamtheit der Nachrichten, Bilder, Texte und Verbreitung einzuleiten.

In der Zusammenstellung von 313 Titelseiten wird die schiere Masse an Ereignissen, Geschichten und Bildern fassbar. So wird das, was die Redakteur_innen der Zeitung als Nachrichten einer Ausgabe an einem bestimmten Tag in einer mehr oder weniger umgrenzten Form auswählen und in ein vorgefertigtes Schema überführen, zu einer überwältigenden Menge an Informationen. In dieser Zusammenschau wird eine gewisse Dynamik deutlich. Die Tausende von Morden, die im Jahr 2010 begangen wurden, wiederholen sich, weshalb sowohl die Fotos als auch die Sprache durchweg skandalös sind und die wechselnden, aber immer erschreckenden Umstände der Morde betonen. Die Nachrichten müssen neu sein, um Aufmerksamkeit zu erregen, d.h. sie müssen sich vom Üblichen unterscheiden, was neue Formen der Berichterstattung erfordert. Dies ist jedoch in einer Stadt, in der Morde zur Normalität geworden sind, fast unmöglich.

Sowohl PM 2010, als konzeptionelles Kunstwerk, als auch Front Pages of La i, in seinem Zeitungsformat, beleuchten die kommerzielle Seite des Journalismus, der ebenso sehr ein Geschäft ist wie ein Medium, etwas über die Welt zu erfahren. Tausende von Exemplaren einer Zeitung müssen verkauft werden, um die Produktion der Nachrichten zu finanzieren. Die Morde sind Nachrichten, und die Nachrichten sind verkaufbare Inhalte. Gewalt und Tod sind also ein wesentlicher Bestandteil des Wertschöpfungskreislaufs des Journalismus. Die Werke veranschaulichen, «wie die Menschen – oder besser gesagt, ihre ermordeten und verstümmelten Körper – in eine Währung im Handel eines unheimlichen symbolischen Marktes umgewandelt wurden, der auf der dramatischen Realität beruhte, in der das Leben der Menschen immer wenig wert war» (Barenblit, El testigo, 11). Dieser «Tauschwert des Objekts» steht im Mittelpunkt der Werke von Margolles (Jauregui, Teresa Margolles: muerte sin fin, 139) und ist auch in Britos früherem Beruf als Journalist immanent.

Repräsentation des Todes

Ein grundlegender Aspekt der Arbeiten von Brito und Margolles ist die Darstellung des Todes. Doch anstatt ihn zu einem flüchtigen Spektakel zu machen, wie es in den Nachrichten geschieht, zielen beide Künstler_innen darauf ab, die Situation der verstorbenen Person und ihrer Gemeinschaft zu enthüllen. Die Zeitungen wenden eine paradoxe Strategie an, indem sie die toten Menschen abbilden, um ein Maximum an Aufmerksamkeit zu erzielen, gleichzeitig aber ihre Identität teilweise verbergen, um ein gewisses Mass an Respekt und journalistischer Integrität zu bewahren. Das Ergebnis ist eine unglückliche Blossstellung des Leids der toten Menschen und ihrer Familien, während es zu einem anonymen, isolierten Ereignis abstrahiert wird. Die Kurzlebigkeit der täglichen Nachrichten und ihre materielle Verwertbarkeit führen zu einem zweiten Tod, der zum Vergessen verurteilt ist. Die künstlerische Praxis von Brito und Margolles wiederum versucht, die Erinnerung und damit die Würde wieder herzustellen. Wie Gabriela Jauregui schreibt, weist das Werk von Margolles auf die Spur vom Lebenden zum Leichnam hin, und indem sie den Leichnam in die Galerie oder das Museum bringt, tötet sie den organischen Teil des Leichnams und erweckt ihn als Objekt wieder zum Leben (Jauregui, «Nekropolis», 146). Die künstlerische Verwandlung der toten Menschen in Bilder – Porträts – macht die Objekte des Spektakels zu Subjekten ihrer eigenen tragischen Geschichte. Brito und Margolles vervollständigen das persönliche Archiv der Verstorbenen als Hommage an ihr Leben, indem sie sie entweder fotografieren oder ihre letzten Fotos aufbewahren und zu einem Kunstwerk machen.

Darüber hinaus erforschen die Künstler_innen, was in den Morden implizit enthalten ist, aber in den Zeitungsberichten nie explizit angesprochen wird. Margolles erklärt: «Bei einem oder einer Verstorbenen ist es nicht so, dass man sich nur ihm oder ihr nähert und sonst nichts. Man nähert sich einer ganzen Gemeinschaft. Die Leiche ist umgeben von dem, was sie war, von einer Nachbarschaft, einem Dorf. Der tote Körper bringt immer etwas mit sich» (Margolles, «El cadáver», ABC Cultural). Durch diese Wahrnehmung des Körpers als eingebettet in das gesamte soziale Gefüge erweitern die Arbeiten von Brito und Margolles die Darstellung des Todes auf die Gesellschaft. Nicht nur die Fotografien der trostlosen Tatorte in heruntergekommenen Stadtvierteln, Industriegebieten oder umliegenden Landschaften der Landwirtschaft oder «Nicht-Orte» sprechen von der Entwürdigung des Lebens. Auch die Schlagzeilen über grausamste Gewalttaten verweisen auf eine Verrohung und einen moralischen Zerfall. Obwohl sich Jauregui auf ein anderes Werk von Margolles bezieht, lässt sich ihre Erkenntnis auch auf die beiden hier besprochenen Arbeiten beziehen: «Indem sie die Armut, die sozialen Unruhen, die Kriminalität, die Überbevölkerung, die Umweltverschmutzung und die Gewalt der kapitalistischen Metropole darstellen, verwandeln sie diese Metropole in eine Nekropole. So steht der Tod des organischen Körpers auch für den Tod des politischen Körpers. In ihrem Werk wird diese Metapher wörtlich genommen – der Tod steht schliesslich für die absolute Veränderung des Zustands (Veränderung des Staates)» (Jauregui, «Nekropolis», 148. Sie zitiert Lisa Downing, Desiring the Dead, Oxford: Legenda, 2003, 39. Unsere Übersetzung). Die toten Menschen werden nicht aus der Gesellschaft herausgerissen, sie stehen für die gesamte Gemeinschaft, ihre Organisation, ihre Regeln und letztlich ihr Überleben.

Schuld und Gewalt an Frauen

Die formale Ähnlichkeit der Werke von Brito und Margolles in der Sammlung des Fotomuseum Winterthur ist kein Zufall oder ein praktisches Ergebnis der Bereiche, in denen die Künstler_innen arbeiten, also im Fotojournalismus oder in der Appropriation Art. Das spezifische Erscheinungsbild der Boulevardzeitung spiegelt gesellschaftliche Strukturen wider, die von den Künstler_innen kritisiert werden. Erstens ist die Darstellung der Morde bestenfalls zweideutig; in vielen Fällen wird jedoch bereits ein gewisses Mass an Schuld der Ermordeten vorausgesetzt. Wie Brito sagt: «Das Problem der Fotos in Sensationszeitungen und einiger gewaltsamer Todesfälle ist, dass wir den Mord rechtfertigen und diejenigen, die auf den Bildern erscheinen, kriminalisieren.» Die Logik dabei ist, dass der Mord einen Grund haben muss, und dass die getöteten Menschen etwas Schlimmes getan haben mussten, das einen anderen dazu veranlasst hat, Rache zu nehmen. Diese Sichtweise ist moralisch besonders verwerflich, da, wie Brito weiter ausführt, die Morde in Sinaloa oft wahllos begangen wurden und die Kartelle es zu einem «Sport» machten, unschuldige Menschen zu töten (Migues, Testigos presenciales).

Zweitens werden durch die Gestaltung der Titelseiten der Zeitungen die Bilder der Toten den Bildern der Lebenden gegenübergestellt, d.h. derer, die es offensichtlich verdienen zu leben. In vielen Fällen handelt es sich um Fotos von Bikinimodels und berühmten, kaum bekleideten Schauspielerinnen, die einen männlichen Blick und ein machohaftes Verlangen nach sexueller Aktivität befriedigen. Die unmittelbare Gegenüberstellung von Bildern des ästhetisierten weiblichen Körpers und der verstümmelten Leichen kommt einer Feier von Leben und Tod in ihren jeweiligen Extremen gleich. Es ist eine abgründige Spaltung zwischen der Lust am Schönen und dem Grausamen. Was diese Begierden verbindet, ist die Objektivierung sowohl der Models als auch der toten Menschen, wobei keinem von ihnen der Respekt eines Subjekts, geschweige denn eines Individuums zuteil wird.

Die Verherrlichung der weiblichen Schönheit in einer Spalte des Titelblatts bedeutet jedoch nicht, dass Frauen von den schrecklichen Ereignissen in der anderen Spalte verschont bleiben. Frauen sind überproportional von Gewalt betroffen. Eine Umfrage von UN Women aus dem Jahr 2018 ergab, dass in Mexiko mindestens sechs von zehn Frauen Gewalt erfahren haben, 41,3 % waren Opfer sexueller Gewalt, und jeden Tag werden neun Frauen getötet. Die Entmenschlichung der Frauen als Objekte der männlichen Begierde auf den Fotos ist eine unmittelbare Ursache für die ihnen zugefügte Gewalt, da sie nur als verfügbare Körper gesehen werden, die es zu besitzen, zu vergewaltigen und zu entsorgen gilt. Dieser Prozess, der bei der Bewunderung der Frau anfängt und bei ihrer Auslöschung endet, wird auf den Titelseiten in perfekter Abfolge dargestellt. Dieselbe Logik, die Brito oben beschrieben hat, gilt auch für die in der Presse abgebildeten Fotos getöteter Frauen: Der öffentliche Diskurs suggeriert, dass nur «die bösen Frauen» Opfer von Entführungen und Morden wurden (Rosauro und Ruz). Der Schritt vom Model zur Leiche wird wiederum durch ein schnelles Urteil über ihr eigenes Verhalten gerechtfertigt, anstatt die strukturelle Realität und die katastrophalen Auswirkungen des Sexismus in der mexikanischen Gesellschaft aufzuzeigen.

Darüber hinaus wird die Gewalt gegen Frauen nicht nur verharmlost, sondern durch den so genannten «Krieg gegen den Drogenhandel» absichtlich überschattet und unsichtbar gemacht, und Frauen, die sich organisiert haben, um gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu kämpfen, werden bedroht (Rosauro und Ruz). In diesem Umfeld, in dem Frauen konkret in Gefahr sind und es ihnen verboten ist, ihre Stimme zu erheben, gewinnt die Arbeit von Margolles besonderes Gewicht. Die Künstlerin selbst spricht diese Problematik und ihre eigene Stellung in der Gesellschaft und in der Kunstwelt an: «Natürlich hat meine Position als Frau in Bezug auf eine Ästhetik, die als rein männlich bezeichnet wurde, meine künstlerische Praxis beeinflusst. Natürlich beeinflusst meine Position als Frau in der Welt die Art und Weise, wie ich arbeite» (zitiert in Amy Carroll, 107n10). Die stark auf Männer ausgerichtete Erscheinung der Zeitungen ist Teil der gesellschaftlichen Vorstellung von Leben und Tod und der Würde des Einzelnen und muss daher in die Bewertung der Situation der Frauen in Mexiko und der physischen und symbolischen Aggression gegen sie einfliessen. Dabei handelt es sich um einen fortlaufenden Prozess, der über den zeitlichen Rahmen der hier vorgestellten Kunstwerke hinausgeht: Einige Jahre nach der Entstehung von PM 2010 reflektiert Margolles über die Bedingungen in Ciudad Juárez, die sich zwar verbessert haben, «aber die Situation der Frauen hat sich kein bisschen verändert» (Margolles, «El cadáver», ABC Cultural).

Interviews

 

Dr. Elena Rosauro ist Postdoc-Forscherin an der Universität Zürich und Co-Kuratorin des unabhängigen Kunstraums la_cápsula in Zürich. Ihr Buch History and Violence in Latin America. Artistic practices, 1992–2012 (CENDEAC, 2017) bietet einen Überblick über Kunstwerke, die sich mit dem Thema Gewalt im Kontext von Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Mexiko und Peru auseinandersetzen. Darüber hinaus hat sie über die Werke von Fernando Brito und Teresa Margolles publiziert.

In diesem Interview rekapituliert Rosauro den politischen und wirtschaftlichen Kontext Mexikos in den 1990er Jahren, in denen sich die Industrie in der Grenzregion zu den USA nach der Umsetzung des NAFTA-Freihandelsabkommens im Jahr 1994 und dem gleichzeitigen Anstieg des Drogenhandels massiv veränderte. Es handelt sich jedoch nicht nur um ein lokales Problem, sondern der globale Drogenkonsum, insbesondere in den reichen Ländern, trägt zu der erschütternden Gewalt in Mexiko bei. In Bezug auf die Kunstwerke, die zu diesem Thema entstehen, warnt sie davor, diese als «Gewaltporno» zu bezeichnen. Dies reduziere die Werke von Brito, Margolles und vielen anderen auf ein Spektakel, das von einer privilegierten zeitgenössischen Kunstszene im Nordatlantik konsumiert wird. Sie verweist auf die feministische Kritik in Margolles’ Werken und auf den Unterschied zwischen den Bildern von Gewalt in Mexiko und jenen, die in Südamerika zirkulieren.

Fernando Brito ist ein Künstler, der sich mit den Auswirkungen von Gewalt in der mexikanischen Gesellschaft beschäftigt.

In diesem Interview erzählt er von seinen persönlichen Erfahrungen als Fotojournalist in Culiacán während der heissen Phase des Drogenkriegs mit Tausenden von Opfern. Während er sich durch seine Berichterstattung über die unzähligen Morde in Lebensgefahr begab, verspürte er den Drang, herauszufinden und zu vermitteln, was in seiner Heimatstadt geschah. Die ausufernde Korruption und die aktive Verwicklung der Regierung in den Drogenhandel verschlechterten nicht nur die politische Lage, sondern auch den Diskurs über die Gewalt. So hat die Frage, ob Bilder von Gewalt gezeigt werden sollen, das eigentliche Problem der Gewalt überschattet. In seiner Kritik an diesem Diskurs, an dem er als Fotograf und Redakteur von La i beteiligt war, stellt er klar, dass solche Bilder unbedingt in Umlauf gebracht werden müssen, um die Situation anzuprangern. Ebenso kritisch sieht er die Rezeption seiner Werke als Künstler, nämlich die Ästhetisierung seiner Serie Tus pasos se perdieron con el paisaje durch europäische Kurator_innen. Die Vermittlung seiner Fotografien und des mexikanischen Kontextes war schon immer eine Herausforderung, aber sein Wunsch an sein Publikum ausserhalb Mexikos ist es, sich die Situation vorzustellen zu versuchen, in der diese Bilder Normalität sind.

Quellen

ONU Mujeres – México. «Día Internacional para la Eliminación de la Violencia contra la Mujer», 25. November 2018. https://mexico.unwomen.org/es/noticias-y-eventos/articulos/2018/11/violencia-contra-las-mujeres

Carroll, Amy Sara. «Muerte sin fin: Teresa Margolles’s Gendered States of Exception», in TDR 54, Nr. 2 (2010), 103–25.

Jauregui, Gabriela. «Nekropolis: Die Exhumierung der Arbeiten von Teresa Margolles», in Teresa Margolles: muerte sin fin, hg. von Udo Kittelmann und Klaus Görner, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2004, 133–51.

Margolles, Teresa. «El cadáver debe estar sobre las mesas del mundo del arte», in ABC Cultural, Madrid, 22. Februar 2014.

Margolles, Teresa, und María Inés Rodríguez. El testigo. Madrid: Centro de Arte Dos de Mayo, 2014.

Migues, Darwin Franco. «Fernando Brito. ‹No soy una máquina y ver el dolor me afecta›», in Testigos presenciales (Blog), kein Datum. http://nuestraaparenterendicion.com/testigospresenciales/fernando-brito/

Rosauro, Elena. Historia y violencia en América Latina. Prácticas artísticas, 1992–2012. Murcia: CENDEAC, 2017.

Rosauro, Elena, und Adriana Domínguez. «Teresa Margolles. Señalar la muerte», in México en el tiempo de la rabia. Arte y literatura de la guerra, el dolor y la violencia (2006–2018), hg. von Alejandro Zamora und Gustavo Ogarrio, Cuernavaca: Universidad Autónoma del Estado de Morelos, 2020, 58–75.

Rosauro, Elena, und Tania Sordo Ruz. «‹Caminar por estas calles, a plena luz del día, da miedo›: representaciones y artefactos culturales contemporáneos de artistas mexicanas sobre el feminicidio en Ciudad Juárez», in Fracturas de la memoria: un siglo de violencia y trauma cultural en el arte mexicano moderno y contemporáneo, hg. von Dina Comisarenco Mirkin. Mexico City: UNAM, im Erscheinen.

Team Extra # 1

Mit dem experimentellen Format Team Extra laden wir Menschen aus unterschiedlichen Bereichen ein, die explizit keine kunst-, museums- oder medienspezifischen Kenntnisse mitbringen. Gemeinsam mit ihnen diskutieren wir Werke aus unserer Sammlung mit dem Ziel, neue Sichtweisen anzuregen und diese im vielstimmigen Austausch zu erforschen. Die Personen, die Teil des Team Extra sind, bringen aufgrund ihrer Erfahrung in Bereichen, die für das Betrachten und Einordnen der Sammlungswerke von Bedeutung sind, Perspektiven mit, die die Auseinandersetzung mit unserer Sammlung bereichern.

Am 5. Februar 2022 hat das Fotomuseum Winterthur anlässlich der Case Study #2 Fernando Brito & Teresa Margolles das Team Extra #1 zu einem eintägigen Workshop eingeladen. Gemeinsam haben wir uns mit Fragen zur Darstellung von Gewalt, die Bestandteil der Bilder von Fernando Brito (Mexiko, lebt und arbeitet in Mexiko) und Teresa Margolles (Mexiko, lebt und arbeitet in Mexiko) ist, auseinandergesetzt, und reflektiert, auf welche Art und Weise diese Sammlungswerke im musealen Kontext präsentiert und diskutiert werden können und sollen.

Der Fokus des 1. Teils lag auf der Betrachtung der Werke Frontpages of La i von Fernando Brito und PM 2010 von Teresa Margolles. Die Darstellungs- und Wirkungsweisen von Gewalt innerhalb der Gesellschaft in der Schweiz und Mexiko sowie im musealen Kontext wurden reflektiert. Im 2. Teil hat die Gruppe unter der Leitung der Künstlerin Paloma Ayala das Fanzine Sensitive Content gestaltet. Das visuelle Experiment ist das Resultat der individuellen und kollektiven Erfahrungen, die das Team Extra mit den Werken aus der Sammlung des Fotomuseum Winterthur gemacht hat.

FANZINE SENSITIVE CONTENT

Für ihre Zeit und ihren Einsatz danken wir Paloma Ayala, bildende Künstlerin (Mexiko und Schweiz, lebt und arbeitet in der Schweiz), und dem Team Extra #1:

Ronan Ahmad, Autor und Kulturschaffender (Irakisch-Kurdistan, lebt und arbeitet in der Schweiz)
Cristiana Bertazoni, Kulturanthropologin (Brasilien, lebt und arbeitet in der Schweiz)
Alina Silberbach, Bestatterin und Thanatopraktikerin (USA und Deutschland, lebt und arbeitet in der Schweiz)
Sandro Benini, Journalist und ehemaliger Lateinamerikakorrespondent (Italien und Schweiz, lebt und arbeitet in der Schweiz)
Ed Rijks, Informatiker und Künstler (Niederlande und Schweiz, lebt und arbeitet in der Schweiz)
Patricia Skirgaila, Medienwissenschaftlerin mit Arbeitsschwerpunkt Medienpsychologie (Schweiz, lebt und arbeitet in der Schweiz)

Workshop Team Extra: Laura Felicitas Sabel, Kulturwissenschaftlerin und Vermittlerin Fotomuseum Winterthur
Dokumentation Workshop: Thi My Lien Nguyen, Fotografin und Künstlerin

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