Case Study: «Poetics of Search»

Digitale Suchprozesse als kritische Methodik fotokuratorischer Praxis

Text und Recherche: Nadine Isabelle Henrich

Ausgangspunkte

Das Projekt «Poetics of Search» versteht Suchprozesse und Datenbankstrukturen als Teilbereiche des Fotografischen. Die Ausstellung führt die Suche als Erzähler_in und digitale Ko-Kurator_in ein, indem sie die Semantik digitaler Datenbanken als zeitgenössische Infrastruktur kuratorischer Praxis inhaltlich gestaltend aktiviert sowie im Ausstellungsdisplay sichtbar macht. Im Zentrum steht die Frage, welche Möglichkeiten sich durch das Erproben neuer Suchmethodiken für die Ordnungen fotografischer Sichtbarkeit ergeben.

Das Projekt, das im Frühling 2022 unter dem Titel «Poetics of Search» konkret als Ausstellungskonzept für die Passage der Fotobibliothek des Fotozentrum Schweiz konzipiert wurde, ist als Skizze einer Methode, als Fallstudie und als eine experimentelle Dialogform intendiert. Sie versteht sich als Impuls, um neue Ansätze für die Interaktion mit den digitalen Infrastrukturen öffentlicher Museen zu erproben und für die kuratorische Konzeption fruchtbar zu machen. Das Konzept entstand aus der Verknüpfung unterschiedlicher Felder, die im gegenwärtigen kuratorischen Arbeiten neue Herausforderungen und Fragen aufwerfen. Allen voran, wie es möglich ist, ein Ausstellungsdisplay zu entwickeln, das sich als Manifestation eines kollaborativen Prozesses zeigt, sich angreifbar macht und institutionelle Strukturen und Museumspraktiken als dynamisch aufzeigt. Darüber hinaus fokussiert das Projekt die Frage, welche neuen methodischen Ansätze aus aktuellen technischen Entwicklungen entstehen können. Beispielsweise, wie die Zugänge historisches Material wahrzunehmen und zu erforschen, durch die Kooperation mit nichtmenschlichen Koakteur_innen, wie Suchalgorithmen, Künstliche Intelligenz (KI), stable diffusion oder GAN_Technologien, umgeformt werden können. «Poetics of Search» bildete folglich in Form einer Ausstellung eine Skizze, die die Reflexion und kritische Auseinandersetzung mit digitalen Suchprozessen und deren Potenzial für neuartige Interaktionsweisen mit und Annäherungen an die Sammlungen und Archive des Fotomuseum Winterthur und darüber hinaus erprobte.

Sichtbarkeit als Suchbarkeit

Die Architektur digitaler Datenbanken hat die Ordnungen und die Strukturen der Sichtbarkeit im Bereich der Fotografie radikal verändert. In einer Gegenwart, in der unüberschaubare digitale Informationsplattformen und Datensammlungen navigiert werden, ist die digitale Suche eine Vermittlungsinstanz, die vor den Betrachtungsprozess geschaltet ist. Statt reale Räume zu besuchen, Kisten zu durchstöbern und in Ordnern zu suchen, erfolgt die zeitgenössische Recherche in fotografischen Sammlungen und Archiven hauptsächlich über Datenbanken und ihre Suchfunktionen – und damit textbasiert und aus der Ferne. Diese organisieren dabei nicht nur digitale fotografische Daten, sondern sind vor den Kontakt mit den physischen Objekten geschaltet. Die digitale Suche moderiert folglich auch den Zugang zu den Museumssammlungen. Die Ordnungen fotografischer Sichtbarkeit sind heute grundlegend durch deren Suchbarkeit strukturiert. In der kuratorischen Theorie und Praxis bildet sich diese Transformation jedoch bisher wenig ab.

Wie können wir die Transformation der Art und Weise, wie Sichtbarkeit durch Suchmaschinen und Werkzeuge vermittelt wird, reflektieren und in der Interaktion mit Sammlungen erproben, um abseits von bekannten Pfaden neue Muster zu entdecken und eingeschriebenen «Biases» mit Perspektivverschiebungen zu begegnen? Die maschinell gestützte digitale Suche ist zugleich Werkzeug und Impulsgeberin, die sich in alle Prozesse der Ideenfindung, Recherche und Auswahl für Ausstellungsprojekte sowie in die forschende Museumsarbeit im Allgemeinen einschreibt. Dennoch wird der Suchprozess an sich als eine Art standardisierter, logischer Pfad im begrenzten Rahmen der Suchmaske verstanden und rein funktional ausgeführt. Genau dieses (Mis-)Verständnis der Suche als standardisiertes Vorgehen wird in «Poetics of Search» adressiert und befragt. Der Suchprozess wird als kritische Methode erprobt und durch eine «Stimme» gezielt aktiviert und als Ko-Akteur_in kultureller Gegenwart sichtbar gemacht. Die Ausstellung «Poetics of Search» versteht und bespielt das Fotomuseum Winterthur und das Fotozentrum Schweiz dabei als einen Raum von Suchprozessen und bietet eine Fallstudie, um das professionelle wie allgemeine Publikum für die «Epistemologie der Suche» [1] als Feld des Fotografischen zu interessieren und zu sensibilisieren. Zentrales Anliegen ist einerseits die Suchbarkeit und deren Semantik ins Zentrum der Ausstellungsgenese zu stellen und andererseits die digitale Suche als Instrument der Gegenerzählung zu nutzen. Indem die Schwerpunkte der Sammlung und deren blinde Flecke Teil der Erzählung werden und Metadaten in das Display einfliessen, die normalerweise nur intern Verwendung finden, wird die Logik der Datenbank und ihrer Informationsfülle in die physische Präsentation eingewoben.

Die Ausstellung bietet unterschiedliche Leserichtungen, multiple inhaltliche Ebenen und Wahrnehmungsmöglichkeiten an, indem die Begriffe zweier auserwählter Gedichte von unterrepräsentierten Stimme in die Suchfunktionen der Museumsdatenbank des Fotomuseum Winterthur eingespeist werden und aus der Suche ein multiperspektivischer Dialog als offene Konstellation von Bild und Text entsteht. Der poetische Text der Gedichte erlaubt es sich auf jene Stimmen einzulassen, deren Perspektiven in den Sammlungsbeständen absent sind. Die Suchergebnisse, die aus den suchbaren Begriffen («searchable keywords») resultieren, schaffen eine bildbasierte Übersetzung der Gedichttexte, die sich jedoch grundlegend von deren Blickpunkt unterscheiden: Fotografien, die Geschichten von Industrie, Wirtschaft, Wohlstand, künstlerischer Freiheit, Militär und die Dokumentation «des_r Anderen» durch weisse Fotograf_innen erzählen, treten in Dialog mit einer poetischen Gegenerzählung des Widerstands gegen Rassismus, Ausbeutung, Diskriminierung und systematische Marginalisierung. Das Vokabular wird dadurch in seinen Bedeutungen für unterschiedliche Perspektiven greifbar. Die Metadaten über die Anzahl der Suchergebnisse geben zudem einen Einblick darin, welche Motive und Themenkomplexe besonders gut in der Sammlung vertreten sind und welche hingegen absent bleiben. Das Display webt folglich unterschiedliche Erzählungen ineinander, die von den Betrachter_innen individuell gedeutet werden können. Eine klare übergeordnete Narration ist nicht vorgesehen. Vielmehr wird eine Herangehensweise vorgelegt, wie wir anders an Archive herantreten können und wie neue Zugänge und unvorhergesehene Verbindungen durch experimentelle Formen der Nutzung von Suchtools erprobt werden können. In seinem Vorhaben lineare Erzählungen, methodische Fetischismen und chronologische Ordnungen fotografischer Archive und Sammlungen herauszufordern, knüpft das Projekt dabei an die jüngste Iteration des Diskurs des Anarchives an, den Hal Foster in seinem Essay «An Archival Impulse» mit Blick auf zeitgenössische künstlerische Praktiken einläutete. [2]

Zwiegespräch

«Poetics of Search» nimmt zwei poetische Texte als Ausgangspunkt eines Zwiegespräches (Suchtext) mit den Sammlungen und Archiven (Suchergebnisse): Zwischen der Stimme eine_r Dichter_in aus einer Gemeinschaft, deren Perspektive in den Sammlungen derzeit unterrepräsentiert ist, z.B. amerikanische Menschen wie Audre Lorde, die sich als Schwarz und lesbisch identifizierten, sowie Menschen wie Quique Aviles, die ihre Heimat El Salvador verlassen haben und die in den USA oftmals als Teil der zweitgrössten Gruppe mit «illegalem» Status leben und arbeiten.

Welche Bedeutung haben die Welten, in denen die Stimmen der Autor_innen verortet sind für ihre Texte und die Perspektive, die sie auf die Sammlungsobjekte entfalten? Ein Beispiel: wenn Audre Lorde «tree» schreibt, ist dieses vermeintlich generische Wort mit einer Erfahrungswelt, Geschichte und politischen Dimension konnotiert, die sich grundlegend vor dem Bedeutungsspektrum unterscheidet, das für die Verwendung von «tree» in einem beschreibenden Bildtitel im Museumsalltag Verwendung fände. «Tree» evoziert bei Lorde die Geschichte von Hass, Gewalt, Rassismus, Nationalismus, Radikalisierung und Verbrechen, die sich in den USA an dem Word «tree» wie ein toxisches Wurzelwerk ausbreitet und ihm eine grundsätzlich andere Schwere zukommen lässt als er im Sprachgebrauch anderer Menschen impliziert. Lordes «tree of anger» ist nicht derselbe «tree», wie ihn X fotografiert oder im Titel bennent. Auch wenn Lorde «march» schreibt, ist die Bedeutung historisch spezifisch und bezieht sich vermutlich auf die Kritik des weissen US-amerikanischen Feminismus der 1960er- und 1970er-Jahre, der innerhalb einer sehr begrenzten Perspektive weisser, privilegierter Frauen um Gleichberechtigung mit weissen Männern ringt, aber von einer holistischen, intersektionalen Perspektive klassenübergreifender, antirassistischer Gleichberechtigung noch weit entfernt ist. Der «marcha política», den Graciela Iturbide im Titel ihrer Fotografie anruft, und der als korrespondierendes Suchresultat zu «march» angezeigt wird, tritt insofern in Dialog mit der Perspektive von Lorde, als er sich auf den Kampf indigener Gemeinschaften Mexikos gegen deren Unterdrückung, Entrechtung und Ausbeutung richtet. Obwohl der geografische Kontext sich unterscheidet, räsoniert in Iturbides fotografischer Perspektive der kolonialgeschichtliche sowie intersektionale Zusammenhang unterschiedlicher Protestbewegungen und Kämpfe gegen Unterdrückung, dem auch Lordes Poesie verschrieben ist.

Doch über diese spezifischen «close readings» solcher Kombinationen von poetischem Suchwort und fotografischen Suchresultaten hinaus, ist der Effekt der Destabilisierung und Pluralisierung der institutionellen Semantik zentral. Denn die Transformation der Bedeutungsstabilität des Sammlungsvokabulars legt Lücken offen und zeigt jene anderen Lesarten und disparaten Erfahrungen, die sich von den selektierten Positionen in den Sammlungs- und Archivbeständen unterscheiden. Durch die Aktivierung der Suchtexte mittels der Stimme Absenter entsteht folglich eine Destabilisierung und Neuordnung bestehender Zusammenhänge, die es erlauben, in den vermeintlich lange bekannten Fotografien und ihren Botschaften neue Lesarten zu eröffnen. Der poetische Suchtext zeigt dabei einen unbeschrittenen (Such-)Pfad durch die Sammlung auf.

Bezugspunkte

In dem Hyperspace des Internet, in dem «es keine für sich isolierten Einheiten, also keine ‹subjects›» mehr gibt, verortet Byung-Chul Han einen «hypertextuellen Modus der Erfahrung». [3] In Rückgriff auf Literary Machines, Theodor Holm Nelsons 1981 veröffentlichtes Standardwerk zum Hypertext, entwickelt er in diesem Zusammenhang den Begriff des «Windowing»: «Alle spiegeln einander oder lassen in sich Andere durchscheinen.» [4] Relevant ist hierbei einerseits die Auflösung solitärer Subjekte, die sich online zugunsten eines unumgänglichen Modus der «Vervielfachung» des Selbst, der Konnektivität und vielstimmigen Kooperation pluralisieren. Darüber hinaus transformiert sich die Rolle der Leser_innen, die sich in einem neuartig offenen Informationsgefüge in unterschiedliche Richtungen bewegen und neue Verbindungen knüpfen können, wie Han hervorhebt: «Der Leser ist nicht mehr in ein vorgegebenes, gleichsam monochromes Sinn- und Ordnungsgefüge geworfen. Vielmehr bewegt er sich aktiv, legt selbstständig Pfade durch den vielfarbigen Raum des Hypertextes.» [5] Wie lassen sich diese Beobachtungen auf den hier unternommenen Versuch einer andersartigen Ausstellungsgenese und -display in der Arbeit mit fotografischen Archiven in Bezug setzen?

Nelsons Konzept des «active reading» ist insofern für «Poetics of Search» von Bedeutung, als es das Lesen als aktive wie gestaltbare Praxis begreift und als kritische wie selbstbestimmte Methode vorstellt. Der Hypertext erlaubt Verbindungen zwischen disparaten Texten und Narrativen aus unterschiedlichen Kontexten zu knüpfen, verlinkt dadurch unterschiedliche Quellen und erlaubt es, eigene Verbindungen zu ziehen, die nicht im Material vorgesehen sind. Es erlaubt folglich eigene Erzählungen in bestehende Texte zu weben und diese dadurch neu lesbar zu machen. Diese Verschiebung einer vermeintlich standardisierten Praxis hin zu einer gestaltbaren Methode entspricht der Art und Weise wie in diesem Projekt die digitale Suche eine kritische Agency und kuratorisch-konzeptionelle Dimension erfährt.

Die Anerkennung des grundlegenden Modus der Durchwirkung und gegenseitigen Spiegelung, den Nelson und Han für unsere Interaktion mit Informationen online postulieren, lässt sich mit Blick auf die kuratorische Praxis mit dem jungen Begriff der «networked co-curation» verknüpfen. [6] Annet Dekker und Gaia Tedone führten diesen 2019 ein, um den Modus der Kooperation, der das Kuratieren im digitalen Raum bedingt, zu akzentuieren: «Networked co-curation can be understood as both a theoretical concept and an operational strategy for forging a critically reflexive mode of online curation. It opens the curatorial activity to participation from human and non-human agents and largely relies on digital tools and network infrastructures.» [7] Dekker und Tedone zeigen, dass digitales Kuratieren konstitutiv in Netzwerke, ökonomische Wirkgefüge, automatisierte Informationsflüsse und soziale Dynamiken eingebunden ist. Diese Sphäre ist jedoch nicht scharf von der vermeintlich «analogen» oder «physischen» Museumspraxis abzugrenzen. Vielmehr stehen digitales Kuratieren und Museumspraxis miteinander im Austausch und sind durch das zunehmend digitale Datenmanagement, die Recherche online und die Datenbank gestützte Sammlungsverwaltung stetig enger verknüpft. Die «Nutzung» von Suchmaschinen online wie auch die Suchfunktionen im Umgang mit Datenbanken in der Museumspraxis muss über das digitale Kuratieren hinaus im selben Sinne als ein Gefüge von nichtmenschlichen und menschlichen Akteur_innen begriffen und reflektiert werden, da die digitale Benutzer_innenoberfläche der Suchtools unserer Umgang mit physischen Sammlungen und Archiven moderiert sowie deren Zugänglichkeit und Sichtbarkeit, wenn auch unbemerkt, grundlegend strukturiert.

Die automatisierte Suche als unverzichtbarer nichtmenschlicher Kooperationspartner erlaubt es uns, online unüberschaubare Datenmengen zu navigieren und jene für uns relevanten Datensätze aus dem Meer von Informationen herauszulesen. Die Nutzbarkeit von grossen Datensammlungen ist elementar mit effektiven Suchfunktionen verknüpft und die Suche agiert, anknüpfend an Nelsons Hypertext, als vorgeschaltete_r Ko-Akteur_in, der/die aktiv Verbindungen vorschlägt. Unsere Wahrnehmung von Mustern, das Knüpfen neuer Zusammenhänge und Formatieren von Daten, bilden das Zentrum zeitgenössischer Ideenfindung. Die Überlegungen von «Poetics of Search» knüpfen daher an Gedanken des US-amerikanischen Kunsthistorikers David Joselit an, die dieser 2011 mit dem Begriff «Epistemologie der Suche» adressierte. [8] In seinem Text «What to Do With Pictures» vertrat er die bedeutende These, in der Kulturproduktion der Gegenwart vollziehe sich eine Verschiebung von der Neuproduktion hin zum Formatieren von bereits existierenden Inhalten. Neues Wissen entstehe heute durch das Finden sinngebender Muster [«patterns»], die beim Navigieren grosser Datenbanken erst mithilfe von Suchmaschinen erkennbar werden. Dadurch formt die Suche, als übersehene nichtmenschliche Hauptakteurin der Gegenwart, grundlegend unsere aktuelle Kulturproduktion. Im Bewusstsein dieser Gefüge müssen Rückschlüsse und im nächsten Schritt neue methodische Ansätze für die kuratorischen Praxis entwickelt werden.

«Windowing»: Das verletzliche Display

Die Digitalisierung der Bestände öffentlicher Museen und die neuartige Möglichkeit derer Anordnung nach spezifischen Suchkriterien wie z.B. Gender, Nationalität der Künstler_innen oder geografischem Ursprung der Sammlungsobjekte, ermöglichen eine neue Art der statistischen Analyse von Sammlungen. Sie erlauben eine «Transparenz» der Institutionen, indem sich die Sichtbarwerdung ihrer Muster und ihre Ein- und Ausschlussmechanismen numerisch manifestieren. Welche Rückschlüsse können aus der Möglichkeit einer solchen digitalen Transparentwerdung für das kuratorische Arbeiten gezogen werden? In Erweiterung zu Hans Verwendung zur Beschreibung digitaler Verfasstheit als den Zustand, in sich Andere durchscheinen zu lassen, wird hier in der Konzeption des Ausstellungsdisplays «Windowing» als verletzliches Display konzipiert. Dieses lässt institutionelle Mechanismen, interne Arbeitsweisen und resultierende «Biases» durchscheinen: Die internen Informationen der Suchergebnisse in der Museumsdatenbank binden die ausgestellten Fotografien in das Gefüge der Sammlung ein und vernetzen sie mit den nicht ausgestellten Bildern sowie bei ausbleibenden Suchergebnissen mit jenen, die nicht gesammelt wurden. Die Lücken im Display und die Metadaten aus dem Suchprozess sind sichtbar markiert und machen die internen Entstehungsbedingungen der Werkauswahl zumindest graduell nachvollziehbar. Um die Ausschlussmechanismen und Unvollständigkeiten in ihrer gesellschaftlichen und politischen Dimension zu begreifen, bildet das Informationsangebot ein Instrument, um Besucher_innen zu sensibilisieren und mit verborgenen Entscheidungsfeldern in Berührung zu bringen, die oftmals unbekannt sind oder zumindest meist unsichtbar bleiben.

«Windowing» soll im Kontext von «Poetics of Search» also das Unterfangen bezeichnen, das Ausstellungsdisplay auch als Fenster in institutionelle Strukturen und interne Prozesse zu begreifen. Die Öffnung der geschlossenen Form des Displays erlaubt es Besucher_innen, die Ausstellung als Momentum in einem fortlaufenden Prozess von Geschichtsschreibung, der Auslotung von Wertesystemen, sowie Ein- und Ausschlussprozessen zu verstehen. Um den Anschein der Ausstellung als geschlossenes Resultat – geboren aus den professionellen Vorgängen einer einflussreichen Institution, deren Produkte eine gewisse Deutungshoheit suggerieren – aktiv aufzubrechen, ist die Transparentmachung der Entstehung, der Such- und Auswahlprozesse ein Ansatz, sich als Institution verletzlich zu machen und sich aktiv für eine kritische wie aktive Rolle der Besucher_innen zu öffnen. Welche Objekte sind bedeutsam für das Thema der Ausstellung, konnten aufgrund restauratorischer Bedenken jedoch nicht ausgestellt werden? Welche Suchen wurden unternommen, aber blieben erfolglos? Welche anderen Argumentationen wurden abgewogen, doch im Prozess verworfen? Und weiterführend: Welche Fotografien aus anderen Perspektiven wären für die Darstellung des historischen Ereignisses genauso relevant gewesen, befinden sich jedoch nicht in der Sammlung und weshalb wurden sie nicht angekauft? «Poetics of Search» macht die Suche zum Ausgangspunkt, um einigen jener Fragen zu begegnen und das Verhältnis der ausgestellten Objekte zu den Sammlungsbeständen transparent zu machen, indem es in den Werkinformationen die internen Suchergebnisse angibt. Wurden unter dem Begriff «triumph» etwa 10 Ergebnisse gefunden, von denen 2 Werke Teil des Displays sind, und die Suche nach «confusion» blieb ergebnislos, wird dies im Display unmittelbar nachvollziehbar. So ist in die Ausstellung eine Parallelerzählung über Sammlungsbestände und vorausgegangene Auswahlprozesse sowie historisch gewachsene Schwerpunkte der Sammlung eingewoben, die Einsichten in die Politiken der Institution möglich macht.

Durch die Text-Bild Kombination im Ausstellungsdisplay sowie die Metadaten zu Suche und Museumsdatenbank in den Werkbeschriftungen wagt das gewählte Display einen gewissen Eingriff in die Autonomie des Werkes. Das Display bindet die einzelne Fotografie und das einzelne Fotobuch in ein Informationsgefüge ein, das sich unterschwellig selbstreflexiv mit den Prozessen und Politiken des Auswählens und Sammelns beschäftigt. Der lange beschworenen Neutralitätsgeste der Institution, die sich ästhetisch zurücknimmt und im Ausstellungsraum insbesondere im Feld der zeitgenössischen Kunst transparent – im Sinne von unsichtbar – zu machen sucht, wird hier eine konträre Vision der Transparenz entgegengestellt: die transparente Institution ist nicht unsichtbar, sondern vielmehr in ihren inneren Prozessen und Politiken sichtbar und einsehbar. Dadurch werden ihre historisch gewachsenen Sammlungen weniger als vorbildhafter Kanon verstanden, sondern auch als das Resultat menschlicher Entscheidungen in einem spezifischen Kontext und seinen Interessengefügen. Das Design und die Informationen, die in einer Ausstellung zur Verfügung gestellt werden, sind eng mit der Frage verknüpft, ob man die Entstehungs- und Produktionsbedingungen von Institutionen als Kontext resultierender Wissensbildung und Geschichtsschreibung als Ausstellungsgegenstand mitdenken und hinterfragen möchte.

Fallstudie Winterthur

Am konkreten Beispiel der Sammlungen und Ephemera des Fotomuseum Winterthur sowie der Publikationen in der Fotobibliothek des Fotozentrums bedeutet dies u.a. zu reflektieren, dass die Sammlungen einen Schwerpunkt in der amerikanischen Fotografie der 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahre aufweisen. Sie verfügen beispielsweise über prominente Bestände von Robert Frank, Lewis Baltz, Joel Sternfeld, Nan Goldin oder Larry Clark. Diese Sammlungsbestände erzählen Geschichten über die USA dieser Zeit: in ihnen manifestiert sich z.B. die Crack-Epidemie, die die USA Mitte der 1980er-Jahre erfasste, oder die menschlichen Verluste durch die Aids-Krise. Sie erzählen Geschichten aus der Perspektive des weissen Amerikas. Absent hingegen sind die Lebenswelten und Kämpfe von Menschen mit Migrationserfahrung in den USA, die Erfahrung rassistischer Gewalt gegen die afroamerikanischen, Latinx Menschen und People of Colour in der amerikanischen Gesellschaft. Unterdrückte und ausgebeutete Menschen werden häufig als Randerscheinungen oder als Gegenstand sozialer Missstände und Unruhen «dokumentiert». In Sternfelds Aufnahme Domestic Workers Waiting for the Bus, Atlanta, Georgia, April 1983, aus der Serie American Prospects, steht vom Fotografen viele Schritte entfernt eine kleine Gruppe von Arbeiter_innen inmitten einer weiten begrünten Strasse, in der ihre weissen Arbeitgeber zuhause sind.

Eine andere Aufnahme von Sternfeld zeigt den Protest eines_r Schwarzen Aktivist_in, die Kritik gegen das neu geschaffene Civil Rights Museum kundtut, das die Gewalt gegen die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung dokumentiert und musealisiert. Das Bild verdichtet sowohl den Blick eines weissen Dokumentarfotografen auf den Protest «anderer», sowie das Unbehagen und Misstrauen unterdrückter Menschen gegenüber Museen, die von ihnen handeln, ohne ihre Perspektiven und ihre Teilhabe zu involvieren.

Wie kann eine Ausstellung entstehen, die jene fehlenden Perspektiven und Lücken in den Sammlungen thematisiert, ohne durch Leihgaben oder Neuankäufe hastig blinde Flecken nachträglich zu vervollständigen und damit die Unvollkommenheit, die historisch gewachsene Sammlungen konstituiert, zu verschleiern? Ist nicht gerade das Bewusstsein für Betrachter_innen erstrebenswert, dass eine jede Sammlung sich als das Resultat von historischen Auswahlprozessen, die (vergangene) Wertesysteme manifestieren, verstehen lässt? Sammlungen erzählen in Form ihrer Objektbestände die Geschichte des institutionellen Selbstverständnisses, kunsthistorischer Methodiken, Wertvorstellungen von Förder_innen- und Freundeskreisen, Kunstmarktdynamiken, ökonomischen Gefügen und kulturpolitischen Interessen. Diese Kontexte und Bedingungen einer Institution lassen sich weder von ihren Sammlungen trennen noch sollten sie nachträglich verschleiert, sondern vielmehr sichtbar und bewusst gemacht werden.

Die Sichtbarmachung von Absenzen verfolgt das Ziel, die Wahrnehmung der Sammlung zu einer bewussten Begegnung mit ihren Hierarchien und Ordnungssystemen zu transformieren und die Institution weniger als moralisch überlegen und allwissend zu verstehen, sondern vielmehr als Register der Transformationen gesellschaftlicher Machtverhältnisse und resultierender Wertesysteme mit auszustellen. Die Entscheidung, die eigene Sammlung zur Disposition zu stellen und zu fragen, wer nicht repräsentiert wird, welche Geschichten nicht von ihren Protagonist_innen erzählt, sondern durch andere vermittelt werden, wer nicht durch den institutionellen Erwerb der Arbeiten profitierte, wessen Werke und Archive nicht aktiv bewahrt wurden, wird mit «Poetics of Search» in der Konstellation von Text und Suchergebnisses bewusst offengelegt. Denn Absenz ist eben nicht als Inexistenz misszuverstehen. Mit Dominick LaCapra gesprochen: «Paradise absent is different from paradise lost…» [9] Könnte also nicht die Ermächtigung der Besucher_innen, die Ein- und Ausschlüsse einer Sammlung als diskursive, dynamische und immer wieder neu auszulotende Praxis zu verstehen, Antrieb sein, um Ausstellungskonzepte und -displays angreifbar und aus kritischen Suchprozessen heraus neu verhandelbar zu machen?

Afroamerikanische Perspektiven

Von Museen gesammelt wurden insbesondere vor der Verfügbarkeit der neuen Suchmöglichkeiten des Internets häufig die Fotograf_innen, die durch menschliche Netzwerke gefunden wurden: Galerien und Publikationen machten auf Künstler_innen aufmerksam, die Kontakte zu Kurator_innen und Museen aufzubauen vermochten. Die häufig prominente Vertretung amerikanischer Fotograf_innen in europäischen und Schweizer Sammlungen ist dabei mit der frühen Institutionalisierung des Mediums in den USA zur Mitte des 20. Jahrhunderts sowie der Vertretung von Fotograf_innen und fotografisch arbeitenden Künstlerinnen durch einflussreiche Agenturen und Galerien begründet. Diese frühe Umarmung der Fotografie erfolgte in den USA jedoch selektiv, nämlich unter Ausschluss afroamerikanischer Fotograf_innen. Diese elementaren Lücken wurden ab den 1980er-Jahren durch die Forschungsarbeit und Ausstellungen durch Fotohistoriker_innen und Kurator_innen wie u.a. Deborah Willis gezielt zu schliessen gesucht. Willis zeigte früh grosses Engagement für die Aufarbeitung der Leerstellen im fotografischen und kunsthistorischen Kanon. Noch vor ihrem ersten Universitätsabschluss 1975 schrieb Willis ein Exposé, um ein eigenes freies Forschungsprojekt zu afroamerikanischen, noch lebenden Fotograf_innen zu beginnen, die nicht Teil der Mainstream-Narrative des weissen Establishments sind. Sie arbeitet damals zeitgleich zur Entstehung von Audre Lordes Who Said It Was Simple an den Grundlagen, biografischen Informationen afroamerikanischer Fotograf_innen erstmals umfangreich für die Forschung zugänglich zu machen. Es ist damals Gordon Parks, der sich als erster Fotograf auf ihre Forschungsanfrage meldet und lebenslanger Freund und Dialogpartner wird. 1985  und 1989 erscheinen zwei Verzeichnisse mit Biografien afroamerikanischer Fotograf_innen, in denen Willis ihre Forschungsergebnisse als Grundlagenwerke publiziert. [10] In einem Interview mit Leica nennt Willis später eine Reihe von u.a. Fotograf_innen, deren Arbeit sie besondere Relevanz beimisst: Gordon Parks, Bruce Davidson, Hank Willis Thomas, Carrie Mae Weems, Lorna Simpson, Deana Lawson, Sheila Pree Bright, Adama Delphine Fawundu, Allison Janae Hamilton, Tyler Mitchell, Moneta Sleet, Jr., Jamal Shabazz, Marc Ferrez, Miriam Romais, Susan kae Grant, Eudora Welty, Jeanne Moutoussamy-Ashe, Ruddy Roye, Jack Franklin, Ray K. Metzker, Roy DeCarava, Bayete Ross Smith, Ernest Withers.

Gebe ich am 27.12.2022 die genannten Namen in die Suchmaske der Sammlung online des Fotomuseum Winterthur ein, finden sich z.B. von Gordon Parks keine Werke in der Sammlung, doch immerhin die Erwähnung in zwei sehr lesenswerten Beiträgen des amerikanischen Fotohistorikers David Campany auf dem Diskurs-Blog Still Searching... Die Suche aller genannter Namen resultiert wie folgt: Gordon Parks (0 Werke, 2 Erwähnungen Blog-Beitrag), Bruce Davidson (0), Hank Willis Thomas (0), Lorna Simpson (1 Serie von 10 Werken), Deana Lawson (0 Werke, 1 Produkt im Buchshop), Sheila Pree Bright (0), Adama Delphine Fawundu (0), Allison Janae Hamilton (0), Tyler Mitchell (0), Moneta Sleet (0), Jr., Jamal Shabazz (0), Marc Ferrez (0), Miriam Romais (0), Susan kae Grant (0), Eudora Welty (0), Jeanne Moutoussamy-Ashe (0), Ruddy Roye (0), Jack Franklin (0), Ray K. Metzker (0), Roy DeCarava (0), Bayete Ross Smith (0), Ernest Withers (0); Von 23 afroamerikanischen Fotograf_innen mit mittlerem bis hohem Bekanntschaftsgrad werden von lediglich einer Fotografin Arbeiten in der Sammlung gefunden, die Trefferrate in der Sammlungsdatenbank online liegt damit bei 4,34 Prozent.

Zurück zum Display der Poetics of Search und dem Versuch, dieses als Fenster in die Sammlungsdatenbank, institutionellen Prozesse und ihre Politiken zu nutzen. Die Produktionsbedingungen von Wissen und Geschichte in musealen Institutionen sichtbar und dadurch auch angreifbar zu machen, wird hier durch Metadaten zu Suchergebnissen in internen Datenbanken erprobt. Wenn ein Begriff des Suchtextes kein Ergebnis liefert, ist dies ebenso unmittelbar nachvollziehbar, wie die Entscheidung, ein Werk aus restauratorischen Bedenken nicht zu zeigen. Durch zwei unterrepräsentierte Stimmen wird die Setzung der Sammlung relativiert, denn in der kontrastreichen Verbindung von poetischer Textebene und gesammelten Fotografien mittels des Suchtools wird die Differenz der Perspektiven ebenso wie ihre Verknüpfung durch historische, ökonomische und politische Zusammenhänge evident. Das Vokabular, mit dem Lorde ihren Kampf um Gleichberechtigung und Empowerment evoziert, trifft auf vernakulare Fotografien aus der Schweizer Industriegeschichte der 1960er- bis 1980er-Jahre. Auf der fotografischen Ebene bilden als vermeintlicher Gegenpol zum Text häufig Industrie und Militär zentrale Themenbereiche, die sich mit den Familien und Migrationsgeschichten von Lorde und Aviles verknüpft lesen lassen.

Sammlungsrevision

Um der Notwendigkeit der Revision und kontinuierlichen Justierung der Sammlungs- und Ausstellungsparameter zu entsprechen, bildet die digitale Suche ein zentrales Instrument – einen Kooperationspartner in der Analyse von «Biases», Leerstellen und Eindimensionalitäten. Neben der Notwendigkeit, Ausstellungen unterrepräsentierten Künstler_innen und Bildproduzent_innen zu widmen, geht «Poetics of Search» der Frage nach, wie Sammlungen und Archiven in einer Weise begegnet werden kann, die nicht den klassischen Pfaden des Museumsalltags entspricht und die Strukturen, Hierarchien und Ordnungen der Institution dadurch implizit fortschreibt. Die Sammlungsrevision aus postkolonialer, antirassistischer, intersektionaler und empowernder Perspektive impliziert eine Dynamisierung und Destabilisierung der tradierten Ordnungen und Kategorien. Diese notwendige Erschütterung betrifft die Wahrnehmung von Museumssammlungen insbesondere durch die Menschen, die mit den Sammlungen interagieren und auswählen, was für die Öffentlichkeit sichtbar gemacht und in Sammlungen für die Zukunft aufbewahrt wird. Jedes neue Ausstellungsprojekt ist eine Neujustierung des Blicks auf die Sammlung und des Verständnisses ihrer Narrative.

Stellt man sich die Sammlung als Insel vor, ergibt sich deren Formation aus den unterschiedlichen Kräften und Akteur_innen, die die Meeresgrenze modellieren, und damit die Insel in ihrer Form bestimmen. Unter dem Wasserspiegel ist sie jedoch verbunden mit weitläufigen Formationen, mit denen sie im Austausch steht und die ihre Form erst hervorgebracht haben. Dieses Gefüge und die unsichtbaren Bereiche, die nicht Teil der Sammlungsbestände oder ihrer sichtbaren Präsentationen sind, sind jedoch nicht weniger relevant. Die Sammlung lässt sich vielmehr in gleichem Masse aus dem Absenten begreifen – aus dem, was nicht gesammelt, nicht aufbewahrt, nicht ausgestellt, nicht katalogisiert, nicht benannt, nicht suchbar gemacht wurde – wie sie sich aus ihren sichtbaren, präsenten Beständen definiert.

Dark Archives vs. negative Archive

In Datenbanken und Archiven online wird von «Dark Archives» gesprochen, wenn Datensammlungen unsichtbar wie unsuchbar und damit unzugänglich und wirkungslos für die User_innen bleiben. Dieser Zustand gleicht einer Schattenexistenz, in der Informationen existent, jedoch nicht erreichbar verwaltet werden. Übertragen wir dieses Szenario auf die physischen Bestände öffentlicher Museen: Expert_innen schätzen z.B. mit Blick auf die Museumslandschaft innerhalb der Schweiz, dass bis zu 90 Prozent der Werke in Museumsdepots selten oder nie ausgestellt werden; in Deutschland dürfte die Bilanz nicht stark differieren. Dieser überwiegende Anteil von Sammlungsobjekten, der unsichtbar in den Archiven und Sammlungsdepots verwahrt bleibt, kann in Analogie zu Datenbanken als physische «Dark Archives», als ungenutzte, schlummernde Ressourcen unserer Museumskultur verstanden werden. Diese Bestände werden ausschliesslich – wenn überhaupt – als Digitalisate mithilfe von Online-Datenbanken suchbar und digital sichtbar gemacht. Auch über die experimentelle Suche von «Poetics of Search» tauchten eine Reihe von Fotografien auf, die zuvor noch nie ausgestellt wurden.

Der Suchtext von Audre Lorde führte folglich auch in die im Schatten liegenden Bereiche der Sammlung, deren Fotografiebestände abseits betretener thematischer oder wissenschaftlicher Pfade ruhen und ungesehen bleiben. Die digitale Suche in der Museumsdatenbank ist demokratisch: vernakulare Fotografien, Ephemera und künstlerische Fotografien diverser Kontexte und disparater ökonomischer Werte tauchen mit der identischen Wahrscheinlichkeit als Suchergebnis auf. Ob in den Datensatz eine digitale Abbildung eingepflegt wurde, spiegelt allerdings häufig auch die Relevanz, die dem Objekt intern beigemessen wird, wider.

Die Diskurse postkolonialer Theorie und feministischer Institutionskritik haben den Kanon «westlicher» Institutionen in seinem Geltungsanspruch grundlegend in Frage und in seinen Parametern, Werten und Machtgefügen zur Diskussion gestellt. Vor dem Hintergrund dieses Anspruches an eine Neudefinition des Selbstverständnisses öffentlicher Museen ist jede historisch gewachsene Museumssammlung in Hinblick auf jene Positionen zu befragen, die nicht gesammelt wurden. Durch diese Perspektivverschiebung wird die Sammlung als Resultat von Auswahlprozessen und folglich Ausschlussprozessen greifbar. Das «negative Archiv» soll hier deshalb das Absente, Ausgeschlossene, Nichtgefundene etc. bezeichnen und als Negativform und unsichtbar gebliebenes Pendant zu den präsenten, gesammelten Fotografien fungieren. Dieses abwesende, negative Archiv soll durch die Aktivierung der Suche als Ausstellungsgegenstand und die beschriebene Strategie des «Windowing» fehlgeschlagener Suchen, die ohne Ergebnisse auf Absenzen hinweisen, evoziert werden.

Text-Bild (Re-)Konfigurationen

Die Ausstellung «Poetics of Search» rückt, ausgehend von der Verknüpfung von Suchbarkeit und Sichtbarkeit, den Wandel des fotografischen Mediums durch seine neuartige Beziehung zum (Such-)Text in den Fokus. Um diesen Paradigmenwechsel greifbar und sichtbar werden zu lassen, führt sie nicht nur den Suchtext als inhaltliche Erzählung ein, um sich mit Sammlungen und ihren «Biases» auseinanderzusetzen, sondern erforscht auch künstlich intelligente (KI) Bildgeneratoren (GAN), wie DALL-E, Midjourney und Stable Diffusion. Hierzu wurde der poetische Text als prompt versioniert und so in GAN Fotografien übersetzt. Diese auf Poesie basierenden synthetischen Fotografien werden in Dialog mit den Suchresultaten aus der Sammlung gebracht, um auf die Perspektiven und Stimmen hinzuweisen, die über die Bestände systematisch unsichtbar gemacht wurden.

Die Ausstellung untersucht das Aufkommen dieser KI-basierten neuen Bildgebungstechnologien dabei sowohl in ihrem Potenzial als künstlerisches und aktivistisches Werkzeug, um alternative Geschichtsnarrative und Gegenerzählungen zu visualisieren, als auch ihre Problematik durch die synthetische Fortschreibung historischer Vorurteile. Diese resultieren aus den u.a. sexistischen und/oder rassistischen Mustern, die als «Biases» in die Archive eingeschrieben sind, mit denen die Technologien des maschinellen Lernens trainiert werden. In diesem breiten Feld, das sich durch die Lernprozesse künstlicher Intelligenzen täglich fortlaufend transformiert, fokussiert «Poetics of Search» primär drei Fragestellungen: Wie verändert die neue Rolle der textbasierten digitalen Suche das Verhältnis von fotografischen Daten und Text? Wie kann diese Wandlung der Konfiguration von Text und Bild reflektiert und ausgestellt werden? Lassen sich neue KI-basierte Bildtechnologien für das Aufzeigen fehlender Perspektiven und die Visualisierung von Gegenerzählungen nutzen?

Von Text zu Bild und zurück

Künstliche Intelligenzen (KI) oder sogenannte Synthetic Cognitions (SC) entwickeln zunehmend die Fähigkeit, Bildinformationen zu erkennen und zu kategorisieren, indem ihre Algorithmen an umfangreichen Datasets aus Bilddatenbanken trainiert werden. Wir alle tragen zum Trainieren dieser Bilderkennungsalgorithmen bei, wenn wir beispielsweise von Google dazu aufgefordert werden, unsere menschliche Identität zu beweisen, indem wir aus neun Motiven z.B. Bilder von Ampeln auswählen müssen.

Aufgrund dieser Entwicklungen ist es heute möglich, auf Basis von Informationen in Textform neue fotografisch anmutende Bilder herzustellen. So lassen sich mittels Generative Adversarial Networks (GAN) aus Millionen von Bilddaten neue Bilder synthetisieren. GAN-Plattformen wie Midjourney oder Dreamstudio, die es Nutzer_innen ermöglichen, durch Texteingabe Bilder zu kreieren und dadurch eigene Ideen und Imaginationen in Bilder umzusetzen, sind Tools, die das Verhältnis von Bild und Sprache neu definieren.

Im zweiten Teil der Ausstellung Poetics of Search wurden die Gedichttexte von Audre Lorde und Quique Avilés mittels GANs wie Midjourney und Dreamstudio in synthetische Bilder übersetzt. Die fotografisch anmutenden Bilder der Gedichte sind im Dialog mit den GANs in einem iterativen Prozess entstanden. Der gesamte Gedichttext wurde in die Textanweisung eingefügt. Die Adaption der Eingabeaufforderung [prompt], die Midjourney zur Erstellung des Bildes veranlasste, wurde mehrfach umformuliert, um den Guidelines der Plattform zu entsprechen. Diese verbietet u.a. Begriffe zu den Themen Gewalt und Sex. Deshalb wurde durch die Autorin in Zusammenarbeit mit Juan Diaz Bohorquez bei der Nutzung von Midjourney beispielsweise bei Audre Lordes Gedicht der Begriff «sex» durch «touch» ersetzt. Folglich wurde hier eine Interpretation bzw. Versionierung des Originaltextes vorgenommen.

Aus dieser modifizierten Eingabeaufforderung lieferte die Plattform schliesslich vier Bildentwürfe, aus denen eines ausgewählt wurde. Dieses wurde dann durch die GAN erneut weiterentwickelt und resultierte in weiteren 4 Versionen, aus denen ein Motiv zur Weiterarbeit gewählt wurde. Dieser Prozess wurde etwa 20-mal wiederholt und so die Bildresultate schrittweise dialogisch zwischen GAN und Nutzer_in weiterentwickelt. Der Prozess ist durch Screenshots dokumentiert, wodurch er in der Ausstellung momenthaft nachvollzogen werden kann.

 94 Wörter in einer Fotografie

GAN- und Stable Diffusion-Plattformen wie Midjourney und Dreamstudio, mit denen die Gedichttexte in fotografische Bilder übersetzt wurden, werden kontinuierlich an Bilddatenbanken trainiert. Diese enthalten Millionen von Bilddaten, die online zugänglich sind und ganz unterschiedlichen Kontexten entstammen. Sie stammen unteren anderem von zahlreichen historischen Archiven, deren Digitalisate frei nutzbar sind. Aufgrund des unterschiedlichen Fortschreitens der Digitalisierungsprozesse historischer Sammlungen weltweit sowie den oftmals US-amerikanischen marktführenden Technologieunternehmen wurden zahlreiche GANs anfangs primär an US-amerikanischen Datasets trainiert.

Die mit Midjourney generierten Bildversionen von Audre Lordes Gedicht Who Said It Was Simple machen bei genauer Betrachtung diese Fokussierung auf US-amerikanische Bildarchive und ihre rassistischen und gewaltvollen Dimensionen sichtbar.

Eine gesichtslose Menschenmasse hat sich unter einem mächtigen Baum versammelt. Der breite Stamm verjüngt sich nach unten hin und dort öffnet sich seine Rinde zu einer verbrannt anmutenden Oberfläche. Die Figuren sind schemenhaft, ihre Gesichter unkenntlich, teils von schwarzen Stoffmasken überzogen. Um den Baum erhellt sich der Bildraum, deutet vielleicht ein Feuer an. Die Figuren stehen dicht beieinander, sind jedoch nicht in konkreter Handlung begriffen. Es scheint eine Versammlung, um etwas beizuwohnen, etwas zu betrachten. Eine Gruppe von drei Figuren trägt kuttenartige Gewänder, die an anthropologische Fotografien indigener Gemeinschaften in afrikanischen Ländern um 1900 erinnern. Im Betrachtungsprozess wird die Textur ihrer Kleidung zu Baumrinde, die sich wie eine Projektion auf das Gewand legt. Es sind diese Kippmomente im Wahrnehmungsprozess, die das Bild destabilisieren und als Netz ungleicher Bildinformationen charakterisieren.

Oberhalb der erwähnten Figurengruppe hängen breite Seile von einem Ast hinab. Die Szene löst Unbehagen aus und trägt einen gewaltvollen Subtext, da sie an die «Lynch-Morde» afroamerikanischer Menschen erinnert: eine öffentliche Ermordungspraktik, die in den USA von den 1890er- bis in die 1950er-Jahre praktiziert und bis in die 1920er-Jahre umfassend fotografisch dokumentiert und als Bildpostkarten verbreitet wurde. Das rassistische Bildregime diente sowohl im Kolonialismus als auch in der US-amerikanischen Gesellschaft als Element gesellschaftlicher Kontrolle und Unterdrückung.

Diese problematischen fotografischen Archive fliessen in gegenwärtige Bildtechnologien ein, wodurch sich die Muster historischer Machtgefüge und ihre gewaltvollen Bildregime in der Gegenwart fortschreiben. So bleibt das synthetische Bild in seiner Bildhandlung zwar ambivalent, scheint bei genauer Betrachtung aber dennoch Muster unterschiedlicher Bildtypen aus kolonialen Kontexten sowie der Geschichte der Sklaverei und der rassistischen Gewalt der USA zu kombinieren. Von Seiten der Technologieunternehmen gibt es nur bedingt Transparenz hinsichtlich der Bilddatenbanken, die zum Trainieren der Bildtechnologien verwendet werden. Die Dimension z.B. des LAION-5B-Trainingsdatensatzes, einer Bibliothek mit 5,85 Milliarden Bildern, die für Stable Diffusion und Googles Images verwendet wird, konnte für dieses Projekt nicht hinsichtlich der beobachteten Muster untersucht werden. So bleibt die hier skizzierte Interpretation eine These, der im Rahmen weiterer Forschung nachzugehen ist.

Tags

Zurück zu der Sammlungsdatenbank in Winterthur. In Museumsdatenbanken, die nicht durch Tags detaillierter beschrieben, inhaltlich verknüpft und motivisch verlinkt werden, wird die Bedeutung von Künstler_innennamen sowie der originären Bildtitel und der beschreibenden Titel in neuer weise relevant. Der Zugang zu unbekannten Künstler_innen und vernakulärer Fotografie ist heute oftmals von Begriffen und Orten abhängig, die in ihren Bildtiteln gefunden werden. Diese ineffektive Suchbarkeit von digitalisierten Sammlungen, von denen nur rudimentäre Werkinformationen eingespeist wurden, steht der potenziellen «Demokratie» der Suche entgegen. Denn die digitale Suche verspricht theoretisch die Zersplitterung der Hierarchien, die Sichtbarkeit der Museumssammlungen nach den Prinzipien der Bekanntheit, des ökonomischen Wertes etc. strukturieren. Praktisch jedoch sind nur sehr wenige Museumssammlungen umfangreich getagt und mit einer Bandbreite von Informationen in die Datenbanken eingepflegt.

Wenn wir die Rolle der Suchbarkeit im Arbeiten mit fotografischen Daten und digitalisierten Sammlungen und Archiven anerkennen, dann wird die Relevanz der Breite und Diversität der Informationen, die Museen mit fotografischen Daten verknüpfen, evident. Stellen wir uns die Sammlung des Fotomuseum Winterthur deshalb als eine Potenzialität von fotografischen Suchbewegungen vor, da diese aktuell nur eingeschränkt suchbar sind: durch Namen, Titel, Serientitel, Jahr, Ort, Technik. Stellen wir diesem Zustand nun eine zukünftige vernetzte Informationsbreite gegenüber, in welcher durch Tags Bilder aus unterschiedlichsten Kontexten auch aufgrund impliziter Zusammenhänge verknüpft werden können. Ein fiktives Beispiel: historische Fotografien von Schweizer Textilfabriken in Winterthur würden durch Tags wie #Textilindustrie oder #Baumwolle mit Aufnahmen der auf Kosten von unbezahlter Arbeit versklavter Menschen basierenden Baumwollplantagen in den Südstaaten der USA in Beziehung gebracht werden. Die Industrie der Schweiz spielte auch eine Rolle im transatlantischen Sklavenhandelsdreieck, das Westafrika, Amerika und Europa verband. So wäre sogar die Verbindung zum Inselstaat Grenada, Heimat der Familie von Audre Lorde und zeitweilig wichtigster französischer Kolonialflottenstützpunkt in der Karibik, ein entfernter Bezugspunkt der digitalen Kartografie einer interkonnektiven Schweizer Industrie- und Fotogeschichte.

Wie kann eine solche Pluralisierung und Diversifizierung der Umgangsweisen mit Datenbanken erzielt werden? Denkbar wäre eine Revision der Sammlungsdatenbank, die das Taggen als Teil einer reflektierten wie kritischen Praxis versteht, die Sichtbarkeit und Zusammenhänge der Sammlung beeinflusst. So wäre es beispielsweise interessant, an Fotografie interessierte Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten einzuladen, sich bei dem Taggen der Sammlung zu beteiligen, um die Tags aus diversen Perspektiven zu vergeben und Zusammenhänge herzustellen, die eventuell abseits der Wahrnehmungsweisen der Institution selbst stehen.

Conclusio

In Anerkennung einer grundlegenden Verknüpfung des fotografischen Dispositivs mit der Suchbarkeit digitaler und digitalisierter Bilder in Museumsdatenbanken, sowie online mithilfe von Suchalgorithmen und Suchmaschinen, eröffnet «Poetics of Search» die Erprobung neuer Suchwege als Instrument kuratorischer Methodik. Den Suchtext als Stimme zu aktivieren, wurde durch Verwendung poetischer Texte umgesetzt, die unterrepräsentierte Perspektiven in Dialog mit der Sammlung brachten. Das Projekt versteht sich als Fallstudie, um zu erproben, inwieweit die digitale Suche als reflektierte Praxis kuratorischen Arbeitens verstanden werden kann und daraus neue Methodiken entwickelt werden können. Keep Searching!

Referenzen

[1] David Joselit, «What to Do With Pictures«, OCTOBER 138 (2011), 81–94.

[2] Hal Foster, «An Archival impulse», OCTOBER 110 (2004), 3-22.

[3] Byung-Chul Han, «Windowing und Monaden», in: Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung (Berlin: Merve Verlag, 2005), 48–50, hier 49.

[4] Ebenda.

[5] Ebenda, 48.

[6] Annet Dekker, Gaia Tedone, «Networked Co-Curation: An Exploration of the Socio-Technical Specificities of Online Curation», in Arts (2019), 8, 86, 1-14.

[7] Ebenda, 11.

[8] Joselit, «What to Do With Pictures», siehe Anm. 1.

[9] Dominik LaCapra, Writing History, Writing Trauma (Baltimore:John Hopkins University Press, 2001), 57.

[10] Deborah Willis-Thomas, Black Photographers, 1840–1940: An Illustrated Bio-Bibliography (New York: Garland, 1985) und Deborah Willis-Thomas: An Illustrated Bio-Bibliography of Black Photographers, 1940–1988 (New York: Garland, 1989).