SITUATION #183
Über einen Zeitraum von zehn Monaten folgte die Filmregisseurin Shengze Zhu zehn chinesischen Livstreamer_innen, sogenannten „Anchors“. Das anfangs eher im Amateurbereich verbliebene Livestreaming ist dort mittlerweile zu einer millionenschweren Industrie herangewachsen. Bevor die Behörden in China 2017 Überwachung und Zensur von Online-Content verschärften, wurden Livestreams von über 400 Millionen Menschen angesehen. Der Reiz solcher Echtzeit-Übertragungen liegt nicht allein im passiven Beobachten, sondern vielmehr in der Möglichkeit, über einen Chat die Handlung aktiv zu kommentieren oder gar mitsteuern zu können. Statt sich auf Influencer_innen zu konzentrieren, die mit ihren Echtzeit-Shows Geld verdienen, folgte Zhu unbekannten Personen, die sich über das Livestreaming den menschlichen Kontakt und Nähe ersehen. Damit verdichtet sie die Alltagsinszenierungen ihrer Protagonist_innen zu einem kollektiven Porträt einer digitalen Generation, für welche die Online- und Offlinewelt fliessend ineinander übergehen. Als Zuschauer_innen zweiter Instanz beobachten wir viel mehr als die blosse Selbstinszenierung im Netz: Zhus Video führt uns die im höchsten Masse soziale Praxis neuer Beobachtungsformen vor Augen, die zwischenmenschliche Interaktionen – und damit die Befriedigung von Bedürfnissen wie Aufmerksamkeit, Geborgenheit und Austausch – in ihrem Dispositiv miteinschliessen.
Cluster: Porn