Hester Keijser, Fotografie als Mittel gesellschaftlicher Veränderung? 04.07. – 17.09.2017 | online

SITUATION #88

Mit zunehmender Bildmanipulation gerät auch der Fotojournalismus immer mehr unter Generalverdacht: die Skandale, die dem jährlich stattfindenden World Press Photo Award anhaften, stellen Fragen zur Authentizität, Objektivität, journalistischen Ethik und einem schwindenden Vertrauen in das Feld. Die aktuelle 2017-Kontroverse um Hossein Fatemi, gefolgt von der Offenlegung des unethischen Verhaltens von Souvid Datta, hat nicht nur grosse Medienaufmerksamkeit geschürt, sondern auch eine breite öffentliche Diskussion auf Social Media in Gang gesetzt. Diese forderte eine kritische Auseinandersetzung mit Fragen der Integrität und Verantwortung, welche auch die strukturellen Bedingungen des Fotobetriebs mitbedenkt, wie die „Ungleichheit der Nutzenverteilung zwischen den beteiligten Akteur_innen des Fotobetriebs und den auf den Bildern Dargestellten/Mitwirkenden“. Hester Keijser, Autorin und unabhängige Kuratorin mit Sitz in Den Haag, und Gründerin von Stead Bureau, ist eine der engagierten Stimmen in diesen Debatten. Sie wurde eingeladen, die aktuellen Kontroversen zu skizzieren und die Dynamiken, die sie prägen, herauszuarbeiten.

FOTOGRAFIE ALS MITTEL GESELLSCHAFTLICHER VERÄNDERUNG?
WIE DER KOLLEKTIVE ERLÖSERKOMPLEX DES FOTOJOURNALISMUS FRAUEN AUSBLENDET UND UNTER EINEM SCHLEIER DES WOHLWOLLENS MISSBRAUCH NORMALISIERT

Hester Kejiser
Publiziert: 04.07.2017

BEGINN: 29. April 2017
INITIATOR: Robert Godden auf facebook.com
ADRESSATEN: LensCulture, Magnum Photography Awards, Souvid Datta
REICHWEITE: Facebook, Medium, Twitter, Online-Magazine für Fotografie, Blogs, Time, Petapixel, Reddit, Duckrabbit, internationale Zeitungen und Zeitschriften, die Radiosender des National Public Radio (NPR)
ENDE: 15. May 2017
STATUS: Abgeschlossen

STREITPUNKT: Kommodifizierung eines Bildes, das eine minderjährige Zwangsprostituierte beim nicht-einvernehmlichen Sex mit einem Kunden zeigt und für die Ausschreibung eines Fotografie-Wettbewerbs auf LensCulture verwendet wurde.
ZIEL: Entfernung des Bildes, Debatte über das ethische Verhalten des Fotografen und der Publikationsplattform.
BEURTEILUNG: Die Verwendung des Bildes verletzt die Menschenrechte des minderjährigen Mädchens, einem Opfer von Menschenhandel, und verstösst gegen Unicefs „Prinzipien für eine ethische Berichterstattung über Kinder“, und stellt in Grossbritannien möglicherweise einen Strafrechtsbestand dar.

ERGEBNIS: LensCulture hat das umstrittene Bild von der Webseite mit der Ausschreibung für den Magnum Photography Award entfernt und eine Entschuldigung veröffentlicht. Souvid Datta hat zugegeben, in mehreren Fällen Bilder manipuliert und plagiiert zu haben, was entdeckt wurde, nachdem der Fall Aufsehen erregt hatte. Ihm wurden daraufhin mehrere Preise und Auszeichnungen aberkannt. Er nennt sich jetzt nicht mehr Fotojournalist.

DIE FALLGESCHICHTE

LensCulture ist eine datenbankgestützte kommerzielle Online-Plattform für Fotografie mit einer weltweiten Nutzergemeinde. Zusammen mit Magnum Photos veranstaltet LensCulture jährlich die Magnum Photography Awards, einen Wettbewerb, dessen Teilnahme gebührenpflichtig ist. Nachdem er die Ausschreibung gesehen hatte, machte Robert Godden am 29. April 2017 in einem Facebook-Eintrag seine Bedenken über ein Bild des britisch-indischen Fotografen Souvid Datta publik, mit dem für die Teilnahme am Wettbewerb geworben wurde. Das Foto zeigt eine minderjährige Zwangsprostituierte beim nicht-einvernehmlichen Sex mit einem Kunden in einem indischen Bordell. Im Gegensatz zum Kunden, der von hinten abgebildet ist und dadurch seine Anonymität behält, ist das Mädchen vollständig erkennbar. Empört über die Verletzung der Rechte des Mädchens durch sowohl Datta als auch LensCulture, forderte Godden LensCulture auf, das Bild sofort zu entfernen und ethische Richtlinien für die Veröffentlichung von Bildern zu erlassen, die gefährdete und besonders schutzbedürftige Kinder zeigen, insbesondere wenn sie Opfer von Menschenrechtsverletzungen sind.

Benjamin Chesterton, Produzent bei Duckrabbit, einer Firma für Multimediaproduktionen und -schulungen, wurde so auf den Fall aufmerksam und veröffentlichte einen sehr emotionalen Eintrag auf seinem viel gelesenen Blog, in dem er von der „Kommodifizierung der Vergewaltigung von Kindern“ schrieb und fragte: „Kann die Welt der Fotografie noch abgefuckter werden?“

Es folgten empörte Reaktionen des gesamten Betriebs und der Foto-Community, woraufhin LensCulture das Bild kommentarlos von der Webseite entfernte und sich schliesslich zwei Tage später öffentlich dafür entschuldigte, den Fall falsch eingeschätzt zu haben. Am 3. Mai nahm Souvid Datta seine Webseite vom Netz, da bekannt wurde, dass er nicht nur den sexuellen Missbrauch Minderjähriger fotografiert hatte, sondern – wie die indische Sozialarbeiterin Shreya Bhat bemerkt hatte – auch Ausschnitte aus Fotografien von Mary Ellen Mark und Bilder anderer Fotograf_innen als eigene ausgegeben und mit neuen Bildunterschriften versehen hatte, um sie nahtlos in sein eigenes Narrativ einzugliedern.

Die öffentliche Empörung in den sozialen und den Printmedien, im Radio und auf Petapixel nahm rasch zu, und Dattas Ansehen als Fotograf war irreparabel beschädigt. In einem Interview mit Olivier Laurent für das Time-Magazin vom 9. Mai nahm er Stellung zu den Vorwürfen und entschuldigte sich öffentlich. Die Fragen in dem Interview wurden aber von vielen, die den Fall verfolgt hatten, als zu unkritisch empfunden, so dass die hitzigen Diskussionen in den sozialen Medien weitergingen. Nach drei Wochen waren Datta von verschiedenen Organisationen Preise und Ehrungen aberkannt und sein Name von ihren Webseiten entfernt worden.

Magnum Photos schaltete sich in die öffentliche Debatte über den Fall nicht ein, veröffentlichte aber später auf ihrer Webseite folgende Erklärung: „Im Lichte der jüngsten Erkenntnisse bezüglich der Arbeitsweise des Fotografen Souvid Datta haben wir ihn aus der Liste der Nominierten für unseren Graduate Photographer-Preis 2017 am Freitag, den 5. Mai gestrichen.“ Bis heute ist unklar, ob LensCulture die ethischen Verhaltensrichtlinien erlassen und durchsetzen wird, die Godden gefordert hatte.

Wie auch im anschliessenden Fall World Press Photo/Fatemi, drehten sich die Diskussionen vor allem um ökonomische Belange, die die Prioritätensetzung in der Fotoindustrie antreiben, und weniger um die Ungleichheit der Nutzenverteilung zwischen den beteiligten Akteur_innen des Betriebs und den auf den Bildern Dargestellten/Mitwirkenden. Und das, wohlgemerkt, obwohl in verschiedenen Beiträgen zur Debatte genau dieser Punkt wiederholt betont wurde.

Der fehlende Konsens darüber, welche ethischen Richtlinien notwendig wären, trat in der Folge der beiden Fälle deutlich zutage. Anhand der Geschichte von Mino, dem folgend dargestellten Fall, soll untersucht werden, wie diese Leerstelle gefüllt werden könnte.

BEGINN: 01. März 2017
INITIATOR: Ramin Talaie auf medium.com
ADRESSATEN: World Press Photo (WPP), Hossein Fatemi
REICHWEITE: Facebook, Medium, Twitter, Online-Magazine für Fotografie, Blogs
ENDE: 15. März 2017
STATUS: Offen

STREITPUNKT: Unethisches Verhalten aufgrund irreleitender Bildunterschriften und manipulierter (gestellter) Bilder, die von Hossein Fatemi eingereicht und mit dem 2. Platz für sein Langzeitprojekt An Iranian Journey (Eine Iranische Reise) ausgezeichnet wurden.
ZIEL: Eine offene Diskussion der Faktenlage betreffend Fatemis Arbeit und der Schlussfolgerung, zu der WPP nach einer unabhängigen Untersuchung gekommen ist.
BEURTEILUNG: Fatemis Verhalten, unterstützt durch die Auszeichnung von WPP, gefährdet die Integrität und Glaubwürdigkeit des (iranischen) Fotojournalismus.

ERGEBNIS: WPP schien an einer wirklich offenen Diskussion nicht interessiert und weigerte sich, den Untersuchungsbericht zu veröffentlichen, auch nicht in einer bearbeiteten Version, die den Schutz der Zeug_innen ermöglicht hätte. Während der Preis Fatemi zwar nicht aberkannt wurde, wurden die umstrittenen Bildunterschriften später geändert. Gründe dafür wurden auch auf Nachfrage nicht angegeben.

DIE FALLGESCHICHTE

Am 13. Februar 2017 veröffentlichte das British Journal of Photography ein Interview mit Lars Boering, in dem er die Bedeutung ethischer Richtlinien für die Wettbewerbsteilnehmenden erwähnte, die nach seinem Antritt als Geschäftsführer von World Press Photo (WPP) erlassen worden waren. „Es geht nicht um World Press Photo, sondern um die gesamte Branche, und wir sollten darüber diskutieren“, sagte er zu BJP. „Das ist eine Sache, die uns wirklich extrem wichtig ist – Fake News darf es nicht geben.“

Zwei Wochen später entschloss sich Ramin Talaie, ein in den USA lebender Fotograf und Filmemacher, der an der Columbia University Graduate School of Journalism Fotojournalismus unterrichtet, mit einem Bericht an die Öffentlichkeit zu gehen, den er zuvor an WPP geschickt hatte und in dem er beschrieb, dass Hossein Fatemis Arbeit gravierende Verstösse gegen die Richtlinien von WPP enthalte. WPP reagierte auf die Vorwürfe, indem man den früheren Vizepräsidenten von The Associated Press, Santiago Lyon, mit einer unabhängigen Untersuchung beauftragte, die WPP schliesslich zu der Einschätzung kommen liess, dass „die vorliegenden Beweise nicht ausreichen, um einen klaren Verstoss gegen unsere für Wettbewerbsbeiträge geltenden Regeln festzustellen.“

Dieser Schluss liess Talaie, der die Bedenken über Fatemis Arbeitsweise weiterleiten wollte, die ihm von vielen Iraner_innen zugetragen worden waren, fassungslos zurück. Er war sich seiner Argumentation bei diesem Fall sicher, auch angesichts der Eindeutigkeit der Zeugenaussagen. Da ihm die Wahrung der Integrität fotojournalistischer Standards im Iran am Herzen liegt, öffnete er die Diskussion über Fatemis Arbeit und die Schlüsse von WPP für eine breitere Öffentlichkeit. Nachdem sein Artikel auf Facebook erschienen war, setzte eine hitzige Debatte zwischen Fotograf_innen und anderen Akteur_innen des Fotobetriebs ein.

Die meisten dieser Diskussionen sind in dem Reader dokumentiert, der zu Dokumentations- und Studienzwecken zusammengestellt wurde und hier heruntergeladen werden kann. Hier lässt sich zunächst festhalten, dass sich die Beiträge thematisch in zwei übergeordnete Kategorien unterteilen lassen:

1) die Ökonomie, die die Prioritäten des Betriebs bestimmt
2) der Ungleichheit der Machtverhältnisse und der Nutzenverteilung zwischen fotojournalistischem Betrieb und Abgebildeten/Mitwirkenden.

Wie Robert Godden, professioneller Menschenrechtsaktivist und einer der aktivsten Teilnehmer an der Debatte, in einer privaten Nachricht an mich zusammenfasst: „Mir scheint, dass die Konzentration auf das Thema der Bildmanipulation (sowohl digitale Bearbeitung als auch gestellte Bilder) einem ökomischen Interesse folgt, das vor allem den Schutz des Betriebs und die Wahrung von Wettbewerbsgleichheit zum Ziel hat. Im Wesentlichen: Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Produkte des Betriebs bewahren und sicherstellen, dass es keiner untergräbt oder sich einen unfairen Vorteil durch ‚Betrug’ verschafft. Die Interessen der Rechteinhaber_innen (diejenigen, die in den Arbeiten abgebildet sind) folgen weit dahinter auf dem zweiten Platz, wenn sie überhaupt eine Rolle spielen. Man kann von einer Kultur der Arroganz gegenüber den Abgebildeten/Mitwirkenden sprechen; aber noch viel schlimmer ist das gleichzeitige Lippenbekenntnis, dass man ihnen ‚eine Stimme gibt’ und ähnliche herablassende Phrasen, die sich in der Nutzenverteilung nicht widerspiegeln.“

Die Geschichte von Mino ist eine Fallstudie zu einem der umstrittenen Bilder und soll die Dynamik sichtbar machen, die die WPP/Fatemi-Debatte prägte.

DIE GESCHICHTE VON MINO

„Sie erinnert den Tag des Fotoshootings als einen netten Tag mit Künstlerfreunden, an dem Fotos für den privaten Gebrauch gemacht wurden. […] Sie erzählte mir, dass es schwierige Zeiten in ihrem Leben gegeben habe, dass sie aber nie als Prostituierte gearbeitet habe. Mino erklärte, dass sie zu dem Zeitpunkt, als die Fotos gemacht wurden, seit fast vier Jahren getrennt von ihrer Tochter lebte. Sie versteht nicht, wie Fatemi darauf kommt, in der Bildunterschrift zu behaupten, sie arbeite als Prostituierte, um den Unterhalt ihrer zwei Kinder zu bestreiten. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen wusste sie nicht einmal, wo sich ihre Tochter befand. Mino berichtete daraufhin die schmerzliche Geschichte, dass ihr erster Mann ihr das gemeinsame Kind vor mehreren Jahren weggenommen habe.

Mino erfuhr von der Veröffentlichung der Bilder erst, nachdem ich Ali gebeten hatte, sie für meine Recherche ausfindig zu machen. Während des Gesprächs mit ihr fragte ich sie zweimal, ob sie als Prostituierte arbeite oder je Sex gegen Geld gehabt habe. Sie verneinte vehement. Sie erklärte, dass sie unverheiratet Sex mit Freunden und Liebhabern gehabt habe, so ähnlich, wie man es von Beziehungen in westlichen Ländern kennt. Wenn jemand sie deshalb für eine Prostituierte halte, fuhr sie fort, und sei es Fatemi oder Ali, spreche das lediglich für dessen engstirnige Vorstellung der Rolle der Frau in der iranischen Gesellschaft.“

Dies ist die Geschichte von Mino [Name geändert], so wie Ramin Talaie sie erzählt hat. Mino ist eine junge Frau, die im Iran lebt und dort ein unabhängiges Leben führt, das in vielen Gesellschaften als unkonventionell angesehen würde. Sie lebt sexuell selbstbestimmt und lässt sich ihre Identität auch sonst nicht vorschreiben. Wir kennen ihre Geschichte, weil Ramin Talaie sich die Mühe gemacht hat, Mino ausfindig zu machen, um mit ihr zu sprechen. Er bat sie, zu erzählen, wie es dazu kam, dass Hossein Fatemi das Foto machte, welches später bei den WPP Awards mit dem Titel „Eine nackte Frau, mit einem Tattoo auf dem Steissbein, liegt auf einem Bett. Die Frau arbeitet als Prostituierte, um den Unterhalt ihrer zwei Kinder zu bestreiten“, was später durch „Eine Sexarbeiterin, auf ihrem Bett liegend“ ersetzt wurde. Nur dass es nicht ihr Bett ist, auf dem sie liegt, wie mir Talaie mitteilte, sondern das Bett von Ali [Name geändert], in dessen Apartment das Fotoshooting stattfand.

Die Kette von Ereignissen, die dazu führte, dass ein netter Tag mit Freunden damit endete, dass Mino dank der hohen Aufmerksamkeit für einen WPP-Award einem Millionenpublikum als Prostituierte vorgestellt wurde, nahm Mari Bastashevski, eine investigative Reporterin und Fotografin, zum Anlass für folgenden Eintrag auf Facebook: „Eine Frau, die kein einfaches Leben gehabt hat und das Sorgerecht für ihr Kind verlor, besteht nach allem, was sie erlebt hat, auf ihr Recht, selbst zu bestimmen, wie sie gesehen werden will in einer Gesellschaft (und damit meine ich nicht allein die iranische), die sie ausblenden will. Es lohnt sich, sich das mal für einen kurzen Moment vor Augen zu führen.“ Die Ausblendung, von der Bastashevski hier spricht, ist ein Akt der Gewalt, dem wir nicht nur einmal, sondern gleich mehrfach in diesem Prozess begegnen, der damit endet, dass ein Fotograf für seine Leistung ausgezeichnet wird.

Haben wir es hier mit unethischem Verhalten zu tun? Das hängt ganz davon ab, und nicht etwa nur von subjektiven Kriterien oder einfach der Frage, welche Perspektive man einnimmt. Wir kommen später darauf zurück. Bleiben wir zunächst bei den wiederholten Akten der Gewalt, die von den beteiligten Akteur_innen des Fotobetriebs begangen wurden.

Von Talaie wissen wir, dass Mino erst später erfuhr, dass das Bild, auf dem sie nackt auf Alis Bett liegt, veröffentlicht wurde. Anders gesagt: Sie hatte keinerlei Mitspracherecht bei der Entscheidung, das Bild einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, noch hatte Fatemi sie gefragt, ob sie mit seiner Bildbeschreibung einverstanden sei. Für Mino gäbe es keine Möglichkeit, eine Verleumdungsklage anzustrengen, da sie vor Gericht gezwungen wäre, Details über ihr Leben preiszugeben, für die sie im Iran strafrechtlich verfolgt werden könnte. Fatemi kann also ungestraft handeln, weil er um ihre Machtlosigkeit weiss; der Preis, den sie zu zahlen hätte, wenn sie Fatemi zur Rechenschaft ziehen würde, ist schlicht zu hoch.

Im Laufe seiner Untersuchung der von Talaie erhobenen Vorwürfe sprach Santiago Lyon kein einziges Mal mit Mino, obwohl Ali ihm ihren Namen und ihre Telefonnummer gegeben hatte. Angesichts der Schwere des Falles und da Lyons Bericht für WPP unter Verschluss liegt, bleibt die Frage, warum er sie nicht kontaktiert hat, besonders drängend. Nach jetzigem Stand stellt die Tatsache, dass sie für den von WPP in Auftrag gegebenen Bericht, aufgrund dessen Talaies Bedenken schliesslich zurückgewiesen wurden, nicht angehört wurde, die zweite Ausblendung von Mino dar.

Obwohl WPP durch Talaies zweiten Artikel auf Medium die Aussage Minos nun kannte, stand man dort weiter zu der Version des Fotografen, mit der Begründung, dass „es nicht möglich ist, in einem Fall, bei dem an so vielen Punkten Aussage gegen Aussage steht, leicht zu einem Urteil zu kommen.“ Selbst in den überarbeiteten Bildunterschriften wird daran festgehalten, Minos Identität für sie festzulegen, indem sie dem Publikum als Sexarbeiterin vorgestellt wird. Das ist die dritte Ausblendung, und sie ist nicht ohne Folgen. Obwohl man nämlich auf dem Bild ihr Gesicht nicht sehen kann, ist nicht auszuschliessen, dass jemand sie erkennt, beispielsweise an ihrem markanten Tattoo. Der nette Tag mit Freunden aus der Kunstszene, der so harmlos schien, könnte sie als Albtraum einholen, sollte sie erkannt und öffentlich blossgestellt oder angeklagt werden, eine Sexarbeiterin zu sein.

Die Ausblendung Minos betrifft aber nicht nur sie, sondern auch die Betrachter_innen des Bildes. Auf der Webseite von Panos, Fatemis Agentur, ist Mino weiterhin eine Frau, die als „Prostituierte“ arbeitet, „um den Unterhalt ihrer zwei Kinder zu bestreiten.“ Wenn es nach WPP ginge, würden wir lediglich „eine Sexarbeiterin, auf ihrem Bett liegend“ sehen. So zusammengekürzt hat diese Beschreibung keinerlei Informationswert mehr, ausser darauf hinzuweisen, dass es im Iran Sexarbeiterinnen gibt, was man aber kaum als eine neue Information bezeichnen kann. Die Bildunterschrift wird so zu einem fadenscheinigen Vorwand, ein weiteres Mal eine Frau, nackt und passiv, abertausende Male dem männlichen Blick zu unterwerfen. Ausgeblendet für uns als Betrachtende wird dabei die Chance, das trotzig-selbstbewusste Porträt einer jungen Frau zu sehen, einer Mutter, die damit kämpft, ein selbstbestimmtes Leben unter den komplizierten Umständen der heutigen Gesellschaft im Iran zu führen.

Dass ich die Kette von Ereignissen um dieses eine Bild so detailliert zu rekonstruieren versuche, hat einen Grund. Wie man dem Fatemi-Reader (hier als pdf) entnehmen kann, ist die Kontroverse über seine Arbeit mittlerweile so komplex und thematisch derart verzweigt, dass das Dokument bereits über 150 Seiten umfasst. Als Antwort auf die vielen Kommentare, in denen die Entscheidung des WPP kritisch hinterfragt wird, haben die Organisation und die Befürworter_innen ihrer Entscheidung im Fall Fatemi darauf hingewiesen, dass nicht der Fotograf, sondern sein Werk den ethischen Richtlinien unterliegen muss, die Boering letztes Jahr erlassen hatte. Erstaunlicherweise findet sich in diesen Richtlinien nichts über Fälle, in denen es um die Rechte der in den Bildern Dargestellten geht. Das einzige Motiv für diesen Kodex scheint vielmehr, wie Godden es in seiner privaten Nachricht an mich formulierte, „die ökonomische Sorge um den Schutz des Betriebs und die Wettbewerbsgleichheit.“

Meines Erachtens gibt es wenig zu gewinnen in der Auseinandersetzung mit WPP über die Frage, ob die Richtlinien ihres Ethik-Kodex wirklich eingehalten wurden oder nicht. Ethik-Kodizes sind normalerweise im besten Fall Empfehlungen, die der Selbstregulierung dienen. Sie sind dazu gedacht, einen praktischen Rahmen für Fachleute anzubieten, die sich mit einem ethischen oder juristischen Dilemma konfrontiert sehen, und sie so bei ihrer Entscheidungsfindung zu unterstützen. Ethische Richtlinien sind keine Gesetze, die durchgesetzt werden können – so frustrierend das für diejenigen sein kann, die überzeugt davon sind, dass Verstösse vorliegen, die ein schlechtes Licht auf den gesamten Betrieb werfen und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Arbeit von Fotograf_innen erschüttern. Selbstverständlich kann die Foto-Community Druck ausüben, was sie auch getan hat, und natürlich gibt es einen grossen Spielraum bei der Auslegung des Satzes, dass Wettbewerbsteilnehmende „in die Szene, die sie abbilden, nicht eingreifen oder sie absichtlich verändern dürfen, indem sie Ereignisse nachstellen oder inszenieren“, und dass sie „gewährleisten müssen, dass ihre Bildunterschriften korrekt sind.“ Man sollte aber dennoch nicht vergessen, dass die Entscheidung darüber, ob Grenzen überschritten wurden – und falls ja, ob das Auswirkungen auf die Vergabe oder Aberkennung eines Preises haben muss – letztlich allein bei WPP liegt. Im Fall des Beitrags von Fatemi kam WPP offenbar zu dem Schluss, dass die Bildunterschriften überarbeitet werden müssen, ansonsten aber nichts vorliegt, das weitere Massnahmen erforderlich machen würde.

Wenn man aber wirklich Fortschritte im Umgang mit solchen Konfliktfällen machen will – und das scheint ein weit verbreitetes Bedürfnis der Diskussionsteilnehmenden in den sozialen Medien – dann schlage ich vor, dass man sich bereits vorhandenes Fachwissen zunutze macht, und zwar die ethischen Richtlinien, auf die man sich in der visuellen Anthropologie und der Ethnologie verständigt hat. Obwohl diese Fächer schon in der Vergangenheit ein enges nachbarschaftliches Verhältnis zum Fotojournalismus hatten, haben jüngste Veränderungen in der Ökonomie des Fotojournalismus die beiden so nah aneinandergerückt, dass es in ihrer Praxis und ihren Anliegen bereits zu Überschneidungen kommt.

Vor nicht allzu langer Zeit war der Fotojournalismus noch in der Unternehmensumwelt der Printmedien verwurzelt, als diese noch ein profitables Geschäft waren, das von Werbeeinnahmen getragen wurde. Gegenwärtig befindet er sich jedoch in einer Übergangsphase, nicht nur vom Analogen hin zum Digitalen, oder von Print zu Online, sondern auch bezüglich seiner Zugehörigkeit und Einkommensmodelle. Junge Fotograf_innen sind gegenwärtig gezwungen, als unabhängige Freelancer auf sich aufmerksam zu machen, die die Kosten für ihre Recherche, Reisen, Ausrüstung und den zeitlichen Aufwand aus anderen Quellen decken müssen, seien es Nebenjobs, das Einkommen der Lebenspartner_innen, private Mittel, Firmensponsoring oder Förderung durch den Staat (z.B. Stipendien, Fördermittel und Preise). In einem Markt, der durch dauernde Mittelknappheit gekennzeichnet ist, braucht man sich über das Auftauchen von skrupellosen Preisgeldjäger_innen nicht zu wundern.

Ein Ergebnis dieser Marktverschiebung ist das Verschwinden traditioneller Berichterstattung für die Nachrichten, ein Bereich, in dem es nicht zuletzt aufgrund der Ubiquität von (Überwachungs-) Kameras und dem Aufkommen des Bürgerjournalismus nur noch wenige sichere Stellen gibt. Stattdessen fliesst heute immer mehr Zeit und Aufwand in die Entwicklung von Longform-Stücken und forschungsbasierten oder sozial engagierten dokumentarischen Projekten. Solche Arbeiten sind einfacher zu vermarkten, wenn sie als fertiges Gesamtpaket mit einer ausgearbeiteten Erzählung über ein aktuelles Thema angeboten werden, das sich in die bekannten Kategorien sozialer Ungerechtigkeit fügt: Obdachlosigkeit, die Sexindustrie, Migration, Gender-Problematiken, die Erderwärmung, Umweltverschmutzung, Drogenhandel, Urbanisation, Bandenkriminalität, die gesellschaftliche Stellung der Frau, Billiglohnländer, etc.

Erst langsam entwickelt sich jedoch ein Bewusstsein dafür, dass diese Art fotografischen Arbeitens tief in ein Gebiet führt, das traditionell von der visuellen Anthropologie, der Sozialarbeit, von Menschenrechtsspezialist_innen und Umweltaktivist_innen bearbeitet wird. Unter dieser neuen Sorte von Dokumentarfotograf_innen gibt es viele, die sich vor Ort so verhalten, als wären sie die ersten Entdecker_innen, demonstrativ blind für die Anwesenheit anderer dort arbeitender Fachleute und desinteressiert an deren Erfahrung. Laut Aussage mehrerer Quellen, mit denen ich darüber gelegentlich gesprochen habe, führen sich solche Neuankömmlinge häufig wie Cowboys auf, die lauthals ihren Glauben an „die Fotografie als Mittel gesellschaftlicher Veränderung“ als ultimative Lösung verkünden, auch wenn wissenschaftliche Studien zuverlässig das Gegenteil belegen. Es ist gut vorstellbar, dass es in nicht allzu ferner Zeit zu Konflikten zwischen Fotograf_innen und denen, die schon länger vor Ort sind, kommen könnte, beispielsweise im Hinblick auf die Verhaltensregeln, die man beachten sollte, wenn man es mit verschleppten Kindern zu tun hat, die zur Arbeit als Sexsklav_innen gezwungen werden.

Überlegen wir anhand der Geschichte von Mino, wie der Fotojournalismus von den ethischen Richtlinien der Ethnologie profitieren könnte. Käme man zu einer anderen Entscheidung, wenn man sich an diese geborgten Richtlinien halten würde, und mit welcher Begründung? Wichtiger noch die Frage: würde Mino so gesehen, wie sie gesehen werden will, anstatt ausgeblendet und durch den Archetyp „gefallene Frau“ ersetzt zu werden? Ich beziehe mich für diese Fallstudie auf ein Dokument, das von der Vereinigung der Ethnolog_innen Grossbritanniens und des Commonwealth ASA (Association of Social Anthropologists of the UK and the Commonwealth) erstellt wurde, da es die bei weitem ausführlichste und gründlichste verfügbare Zusammenstellung solcher Richtlinien ist. In der Präambel heisst es:

„Ethnolog_innen betreiben ihre Forschung an vielen Orten auf der ganzen Welt; an manchen sind sie ‚zuhause’, an anderen sind sie auf die eine oder andere Art ‚Fremde’. Ethnologische Forschung findet in den verschiedensten wirtschaftlichen, kulturellen, juristischen und politischen Settings statt. Als Wissenschaftler_innen und Bürger_innen sollten Ethnolog_innen besonders aufmerksam sein für die Folgen ihrer Beziehungen zu und Folgen ihrer Arbeit für: die Individuen und Gruppen, bei denen sie ihre Feldforschungen durchführen (ihre Studienteilnehmenden oder ‚Forschungsobjekte’) ; ihre Kolleg_innen und ihr Fach; Sponsoren, Geldgeber, Arbeitgeber_innen, Gatekeeper; ihre Regierung und die ihres Gastlandes; andere Interessengruppen und die breitere Gesellschaft des Landes, in dem sie arbeiten.

Ethnolog_innen sehen sich, wie andere Sozialwissenschaftler_innen auch, zunehmend mit konkurrierenden Verpflichtungen und Interessenkonflikten konfrontiert, und müssen häufig eine implizite oder explizite Entscheidung zwischen gegensätzlichen Werten und zwischen den Interessen verschiedener Personen und Gruppen fällen. Sie begegnen ethischen und rechtlichen Dilemmata in allen Phasen der Forschungsarbeit – bei der Wahl des Themas, der Region oder Bevölkerung, der Wahl der Geldgeber und Quellen für die Finanzierung, bei der Verhandlung über den Zugang, dem Aushandeln von Forschungsangeboten‚ und bei der Durchführung der Feldstudien, bei der Auswertung und Analyse der Ergebnisse, der Veröffentlichung und Nichtveröffentlichung von Ergebnissen und Daten. Ethnolog_innen stehen in der Verantwortung, mögliche Probleme im Voraus zu erkennen und sie, sofern möglich, zu lösen und zu verhindern, dass Studienteilnehmende oder Wissenschaftler_innen zu Schaden kommen. Sie sollten alles in ihrer Macht Stehende tun, um sicherzustellen, dass sie das Gebiet und den Gegenstand ihrer Forschung in einem Zustand hinterlassen, der Forscher_innen auch in Zukunft den Zugang ermöglicht. Als Vertreter_innen eines Fachs, das sich dem Streben nach Wissen und der Veröffentlichung von Ergebnissen verschrieben hat, sollten sie bemüht sein, ihre Integrität bei Durchführung ethnologischer Forschung zu wahren.“

Das Dokument führt darauf detailliert die Richtlinien für jede der festgestellten Beziehungen und Verantwortlichkeiten aus: 1) gegenüber Studienteilnehmenden 2) gegenüber Sponsoren, Geldgeber und Arbeitgeber_innen, 3) gegenüber Kolleg_innen und dem Fach, 4) gegenüber der eigenen Regierung und der des Gastlandes und 5) gegenüber der Gesellschaft. Obwohl das Bewusstsein für die Gesamtheit der verschiedenen Beziehungen, die ein_e Forscher_in mit unterschiedlichem Mass an Verantwortung pflegen muss, bemerkenswert ist, werde ich mich nur auf die Aspekte beschränken, die von direkter Bedeutung für den Fall Fatemi sind.

Minos Beschreibung, dass sie den Tag als „einen netten Tag mit Künstlerfreunden“ erlebt habe, legt eine Beziehung auf Augenhöhe zwischen ihr, Ali und Fatemi nahe; alle drei arbeiteten bei der Inszenierung und Produktion der Aufnahmen zusammen. Die Dynamik der Beziehungen änderte sich jedoch in dem Moment, als Fatemi die Entscheidung traf, seine Bilder für seine Arbeit Eine Iranische Reise zu verwenden. Ab diesem Moment war Mino nicht mehr einfach eine Freundin, sondern wurde zu einem Bildgegenstand, oder einer Beteiligten an seinem Projekt, was bedeutet, dass Fatemi in der Verantwortung stand, sie entsprechend professionell zu behandeln. Gemäss der oben zitierten ethischen Richtlinien heisst das:

„Schutz der Studienteilnehmenden und die Honorierung des Vertrauens: Ethnolog_innen sollten darum bemüht sein, das körperliche, soziale und psychologische Wohlergehen der Menschen zu schützen, die sie erforschen und ihre Rechte, Interessen, Empfindungen und Privatsphäre zu achten:

(a) Die meisten Ethnolog_innen sehen sich in allererster Linie ihren Studienteilnehmenden verpflichtet und räumen im Falle eines Interessekonflikts deren Interessen und Rechten Priorität ein.

(b) Unter bestimmten Forschungsbedingungen, besonders im Fall von Auftragsforschung, kann es vorkommen, dass die Wahrung der Interessen der Teilnehmenden nicht voll gewährleistet werden kann. In solchen Fällen sind Ethnolog_innen gut beraten, im Voraus zu überlegen, ob sie ihre Forschung an diesem Punkt fortsetzen sollten.“

Hat Fatemi Minos Vertrauen honoriert, als er sich entschied, sein Bild zu veröffentlichen, ohne sie nach ihrer Einwilligung zu fragen? Hat er im Voraus intensiv darüber nachgedacht, was es für Minos Rechte, Interessen und Privatsphäre bedeutet, so ausgestellt zu werden, und hat er ihr das mitgeteilt? Hat er den Schaden vorausgesehen, den sie dadurch nehmen könnte? Wie die Richtlinien ausführen:

„Ethnolog_innen sollten über eine hohe Sensibilität für die möglichen Konsequenzen ihrer Arbeit verfügen und darum bemüht sein, Vorkehrungen gegen vorhersehbare schädliche Folgen zu treffen. Die Einwilligung der Teilnehmenden entbindet Ethnolog_innen nicht von ihrer Pflicht, diese so gut wie möglich vor potenziell schädlichen Folgen ihrer Forschung zu bewahren.“

Das bedeutet, dass Fatemi selbst dann nicht von seiner Verantwortung ihr gegenüber entbunden gewesen wäre, wenn sie ihre Einwilligung gegeben hätte. Wusste er, was Einwilligung nach Aufklärung bedeutet? Auch hier sind die Richtlinien detailliert und aufschlussreich:

„Dem Präzedenzfall der Nürnberger Prozesse und des Verfassungsrechts vieler Länder folgend, sollte Forschung an Menschen die freiwillige informierte Einwilligung der Beteiligten nach bestmöglicher Aufklärung voraussetzen. Im Prinzip der Einwilligung nach Aufklärung drückt sich die Überzeugung aus, dass das Verhältnis zwischen Sozialwissenschaftler_innen und den Menschen, über die sie forschen, ehrlich und respektvoll sein sollte:

(a) Eine Einwilligung einzuholen setzt voraus, dass Informationen, die aller Voraussicht nach die Bereitschaft einer Person zur Teilnahme beeinflussen könnten, mitgeteilt werden, zum Beispiel: das Ziel und die voraussichtlichen Folgen der Studie; die Namen der Geldgeber; die voraussichtliche Verwendung der Ergebnisse; der mögliche Nutzen der Studie und die möglichen Nachteile und Unannehmlichkeiten, die sich aus der Studie für die Teilnehmenden ergeben könnten; Fragen der Datenspeicherung und -sicherheit; und schliesslich der Grad an Anonymität und Vertraulichkeit, der Auskunftspersonen und Teilnehmenden zugesichert werden kann.

(b) Bedingungen, unter denen eine Einwilligung als nichtig anzusehen ist: eine Einwilligung nach Beendigung der Forschung ist nicht aussagekräftig, darüber hinaus ist eine Einwilligung nur rechtswirksam, wenn Studienteilnehmende rechtsfähig sein. Sind Teilnehmende rechtlich dazu verpflichtet (z.B. durch ihre Arbeitgeber_innen oder ihre Regierung), an einer Studie teilzunehmen, kann nicht von einer aussagekräftigen Einwilligung gesprochen werden, und Ethnolog_innen wird in diesem Fall geraten, diese Arbeit nicht weiter zu verfolgen.

(c) Die Frage der Einwilligung ist in der Forschung ein Prozess, kein einmaliger Vorgang, und erfordert unter Umständen Nachverhandlungen im Laufe der Zeit; Ethnolog_innen sollten auf sie regelmässig zurückkommen.“

Anhand dieser Richtlinien wird deutlich, dass Fatemi seiner Verantwortung gegenüber Mino als seiner Mitwirkenden nicht gerecht geworden ist und dass er nach den Grundsätzen, an denen die Ethnolog_innen festhalten, unethisch gehandelt hat. Das Foto von Mino hätte nicht Teil dieser Serie sein dürfen, und schon gar nicht mit der Bildunterschrift, mit der er das Foto einreichte. Ausserdem wird anhand dieser Richtlinien klar, dass es sich hier nicht um einen Fall von „Aussage gegen Aussage“ handelt, wie Boering behauptete, da – völlig unabhängig davon, wer was sagte – die Machtverhältnisse hier festlegen, dass Fatemi derjenige ist, der letztlich für den Schutz der Rechte seiner Mitwirkenden verantwortlich ist, und dass diese Vorrang vor allen weiteren Überlegungen und Interessen haben sollten. Da Mino keine Möglichkeit gegeben wurde, in Lyons Bericht ihre eigene Sicht darzustellen, hätte Boering darüber hinaus nie zu dem Schluss kommen dürfen, einfach die Geschichte des Fotografen zu übernehmen, weil damit der Grundsatz missachtet wird, dass die Rechte und Interessen der Teilnehmenden Priorität haben [1]. Ethnolog_innen würde in einem solchen Fall wohl dringend empfohlen, „diese Arbeit nicht weiter zu verfolgen.“

In den sozialen Medien beklagten Kommentator_innen immer wieder auch die Unverantwortlichkeit Fatemis gegenüber seiner Disziplin und den Kolleg_innen. Die Richtlinien nehmen zu diesem Punkt ebenfalls ausführlich Stellung. Über das Verhältnis zu und die Verantwortung gegenüber den Kolleg_innen und dem Fach heisst es:

„Ethnolog_innen verdanken ihr Ansehen und bestimmte Privilegien hinsichtlich des Zugangs zu Studienteilnehmenden und hinsichtlich der Datenerlangung nicht allein ihrem eigenen Ruf, sondern auch ihrer Fachzugehörigkeit. Mit der Anerkennung dieser Zugehörigkeit gehen sie verschiedene Verpflichtungen gegenüber der breiteren Gemeinschaft der Ethnolog_innen ein und können von ihr im Gegenzug Unterstützung erwarten.

(1) Individuelle Verantwortung: Ethnolog_innen tragen die Verantwortung für den guten Ruf ihres Fachs und seiner Vertreter_innen. Überlegungen zur Wahl der Methode, den Verfahren, dem Inhalt und der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse, dem Verhalten bei Feldstudien, zum Verhältnis zu Studienteilnehmenden und Mitarbeitenden sollten also darauf abzielen, dass ihr Handeln zukünftige Forschung nicht gefährdet.“

Auf Facebook schrieb Sima Diab Kassem, eine syrisch-amerikanische Fotografin, die in Kairo lebt, über ihre sehr reale Sorge darüber, welche Konsequenzen sowohl Fatemis Verhalten als auch die Bestätigung seiner Arbeit durch die Auszeichnung hat und welche Schäden dadurch entstehen:

„Ich lebe in einem paranoiden Land, einem Land, in dem die Kunst, Journalist_innen der Lüge zu bezichtigen, so hoch entwickelt ist, dass Trump dagegen wie ein Anfänger aussieht. Ein Land, in dem ich den Leuten, die ich fotografiere, erklären muss, dass ich nicht von Politiker_innen gekauft bin, dass ich keine fremden Interessen verfolge, sondern wirklich nur dort bin, um ihre Lebenswirklichkeit abzubilden. Meine Arbeit wurde teils unmöglich gemacht durch das Verhalten skrupelloser Fotograf_innen, die an den gleichen Orten wie ich waren, und das zur Folge hatte, dass ich den Menschen dort immer wieder erklären musste, dass sie keine Szenen für die Kamera nachstellen brauchen, dass ich, wenn ich kein ungestelltes Bild bekomme, halt gar kein Bild bekomme. So einfach ist das. Was zur Hölle haben wir gemacht, dass sowas auch nur im Entferntesten akzeptabel ist? Man sagt uns, dass für uns höhere moralische Ansprüche gelten, unsere eigenen ethischen Standards, die goldenen Standards unseres Berufs, und es ist genau dieser Standard, das Wesen der Wahrheit, weswegen ich es mache. Nur wird es immer schwieriger, diese Wahrheit zu verteidigen.“

Abschliessend lässt sich also sagen, dass die Grundsätze, die Ethnolog_innen selbstverständlich und vernünftig erscheinen, für die Art von Fotojournalismus, die WPP fördert, offensichtlich keine Rolle spielen. Die Auszeichnung von Fotograf_innen, denen die Verantwortung gegenüber ihren Mitwirkenden und Kolleg_innen gleichgültig ist, wird unweigerlich Folgen für das Ansehen von WPP haben. Schaut man sich den Fall durch die geborgte Brille ethischer Ethnolog_innen an, ist es eigentlich vollkommen unverständlich, warum eine Organisation sich einem solchen Risiko aussetzen sollte, insbesondere wenn es so einfach abzuwenden wäre. Man fragt sich, was der Nutzen davon sein soll, sowohl kurzfristig als auch langfristig.

Ein Ergebnis dieser vergleichenden Lektüre ethischer Kodizes verwandter Berufe ist der Eindruck, dass die Einführung ethischer Richtlinien für den Fotojournalismus bei WPP zwar grundsätzlich lobenswert ist, gegenwärtig aber lediglich dem Erhalt der Wettbewerbsgleichheit innerhalb der Branche dient. Sie berücksichtigen aber nicht die weiterreichenden und sehr realen Verantwortlichkeiten, die mit dem aktuellen Wandel der Rolle der Dokumentarfotograf_innen neu entstehen. Ausserdem darf man bezweifeln, dass das Ziel der Bewahrung des öffentlichen Vertrauens in die Produkte des Betriebs erreicht wurde. Die 150 Seiten Textmaterial, die die Fatemi-Kontroverse produziert haben, sprechen eine andere Sprache.

Die Ankündigung, dass WPP einen Internationalen Kreis von Berater_innen einsetzen wird, ist zu begrüssen. Es ist zu hoffen, dass diesem die nötigen Mittel an die Hand gegeben werden, um nicht allein die Interessen der Branche zu wahren, sondern auch beurteilen zu können, wie die Wettbewerbsteilnehmenden ihre Beziehungen zu den Abgebildeten als den Rechteinhaber_innen gestalten, und wie sie die Integrität ihres Berufs gewahrt oder gefährdet haben. WWP würde das zweifellos den Respekt der Community einbringen und es würde zeigen, dass ihnen die Förderung eines verantwortungsbewussten Journalismus und die Berücksichtigung aller Mitwirkenden echte Anliegen sind. Ist das viel verlangt? Ich denke nicht, wenn man sich vor Augen hält, dass Ethnolog_innen und andere Sozialwissenschaftler_innen sich an solche Empfehlungen und Richtlinien schon weit länger halten. Der Mehrheit der Fotojournalist_innen wird sicher daran gelegen sein, die höchstmöglichen Standards zu wahren, besonders gegenwärtig, da der Wahrheit und Integrität der Wind besonders kalt ins Gesicht weht.

Aus dem Englischen von Cornelius Reiber.

FUSSNOTEN

[1] Am 22. Mai 2017 veröffentlichte World Press Photo unter dem Titel Pursuing justice and seeking the truth: a World Press Photo Contest update eine abschliessende Stellungnahme zu Talaies zweitem Bericht. Über den Fall von ‚Mino’ heisst es dort, dass widersprüchliche Versionen darüber vorlägen, was während des Fotoshootings passiert sei. WPP hat sowohl mit Fatemi als auch ‚Ali’ gesprochen, Mino aber nicht befragt, wofür nun die Begründung gegeben wird, dass die Aussagekraft eines Gesprächs mit ihr angesichts ihrer nicht zweifelsfrei geklärten Identität „unklar“ gewesen wäre. Beide Männer gaben zu Protokoll, dass sexuelle Handlungen stattgefunden hätten, als Beweis dafür hätten sie unveröffentlichte Fotos vorgelegt. Nur einer der Männer, vermutlich der Fotograf, gab an, dass Geld bezahlt wurde.

Obwohl zwei von drei Zeugen bestreiten, dass es sich um Prostitution handelte, entschied WPP sich dafür, dem einen Zeugen Glauben zu schenken, der das Gegenteil behauptete. Abgesehen davon, dass WPP offensichtlich gegen die anderen beiden Zeugen voreingenommen ist, scheinen sie auch nicht zu wissen, was eine Einwilligung nach Aufklärung ist, noch zu verstehen, dass es überhaupt nicht zur Sache gehört, ob Mino für den Sex bezahlt wurde oder ob es um einvernehmlichen Sex ging, oder ob sie darüber lügt. Wichtiger noch als die Diskreditierung zweier Zeugen und das Versagen beim Schutz der Abgebildeten ist, dass WPP sich gar nicht klarzumachen scheint, dass durch das Eingeständnis, es gebe hier nun mal nicht die eine „Wahrheit“, das Foto seines dokumentarischen Werts beraubt und so als ein Beispiel für guten Fotojournalismus wertlos wird.