Fotomuseum Winterthur | Samstag, 09.06. – Sonntag, 19.08.2012

Rosângela Rennó – Strange Fruits

Mit verschlingender Kraft strebt die brasilianische Gesellschaft nach vorne und verdrängt dabei die Erinnerung an Vergangenes systematisch. Die Brasilianerin Rosângela Rennó (*1962) versucht, durch die künstlerische Aneignung von gefundenem Bildmaterial aus privaten und öffentlichen Archiven gegen dieses kollektive Vergessen anzukämpfen. Aneignung gegen das Vergessen ist also ein zentraler Handlungsmotor in ihrem Werk. Ein Ankämpfen gegen das kollektive Verdrängen, gegen eine Zukunft mit gähnend leerer Vergangenheit. Rosângela Rennó scheint in diesem Sinne als Fährtensucherin unterwegs zu sein. Zum Beispiel in ihrer frühen Arbeit Imemorial, in der sie Porträts von Arbeitern aktualisiert, die beim Bau der zukunftsgerichteten Stadt Brasilia gestorben sind. In Cicatriz (Narbe) oder Vulgo (Alias) betreibt sie eine Art mentaler Archäologie, indem sie Fotos von ehemaligen Häftlingen, die sie als Glasplatten im Carandiru-Gefängnis in São Paulo findet, fast schmerzhaft vergrössert, so dass wir einerseits die Kälte dieser früheren formalen Identitätsfotografie, andererseits die Verlebendigung (aller Narben, Tattoos, aller Niederschläge auf die Haut, störrische Haarwirbel eingeschlossen) durch die Vergrösserung beim Betrachten physisch spüren.

Rosângela Rennó präsentiert uns eine Neuanwendung der Appropriation Art in politisch-kultureller Hinsicht, mit einem Hang zum Dreidimensionalen, zum Skulpturalen, zur Installation – so als wolle sie die Amnesie möglichst körperlich demonstrieren, die Verluste möglichst „fleischig“ wieder auferstehen lassen. Nicht immer handelt es sich bei ihren Funden um eminent wichtiges Kulturgut; es können auch einmal „nur“ Seltsame Früchte (Strange Fruits) sein. Immer aber handelt es sich um Formen von politisch bewusster, kultureller Archäologie und das inständige Bemühen, mit diesen Werken eine visuelle Anthropologie Lateinamerikas zu installieren.

Die Ausstellung wurde von Isabel Carlos und Urs Stahel kuratiert und ist in Zusammenarbeit mit der Gulbenkian-Stiftung in Lissabon entstanden.

Wir danken der Avina Stiftung für die grosszügige Unterstützung.