Jean Louis Garnell – Werke 1985–95
Jean-Louis Garnell erfindet ein neues Genre: das Bild der Unordnung. Dieses verhält sich zum Stilleben wie eine Bau- oder Abbruchstelle zur Landschaft (Garnell hat sich im übrigen eben mit diesem Thema befasst). Im Gegensatz jedoch zu den in der Geschichte der Malerei, zumindest im 18. Jahrhundert, ziemlich häufigen Ansichten von Baustellen stiess die Unordnung in Räumen nie auf ein besonderes Interesse bei den Malern. Diese beschränkten sich auf die Darstellung symbolischer Kompositionen als Ausdruck des Überflusses, der Eitelkeit, wobei sie sich ganz dem Reiz des Überladens hingaben. Die alten Griechen allerdings kannten den Begriff der Rhyparographie, das heisst der „Darstellung von hässlichen, abstossenden Gegenständen“ (Charles Sterling). Zumindest ein Beispiel davon ist uns erhalten geblieben: das berühmte Mosaik des Sosos von Pergamon mit dem Titel Das unaufgeräumte Zimmer, dessen Boden bedeckt ist mit „Tischabfällen – Fischgräten, Pouletknochen, Krebsschwänzen, angebissenen Früchten, ausgespuckten Kernen – wie wenn man das Kehren (mit einem „Triclinium“) vergessen hätte“ (Sterling, in seiner Geschichte des Stillebens, Paris 1952).
Erstaunlicherweise hat der Realismus des 19. Jahrhunderts die Wiederaufnahme und die Weiterführung des Themas nicht begünstigt. Einzig vielleicht das Atelier eines Künstlers (Maler oder Bildhauer) konnte als unordentlicher Ort dargestellt werden. Doch hing dies mit der romantischen Vorstellung des Genies als Sonderling, Aussenseiter oder gar Anarchist zusammen: Das Atelier war ein aussergewöhnlicher Ort, ja ein Chaos, das „jeder Beschreibung spottet“ (der Ausdruck stammt von Rilke im Zusammenhang mit dem Atelier von Rodin). Die Unordnung einer Baustelle konnte als Aspekt der Ästhetik der Ruinen verstanden werden. Doch die Unordnung in Wohnräumen verlangte, um Gegenstand eines Bildes zu werden, den Blick eines in dokumentarischer Beschreibung geschulten Fotografen. Einmalig und beispielhaft ist deshalb bei Garnell, dass er sich ausgerechnet mit der gewöhnlichen Unordnung befasst und ein neues Genre schafft, indem er mit all den winzigen Nuancen spielt, die das „Interieur“ (oder „Sittenbild“, wenn eine Gestalt dabei ist) und das Stilleben von dieser besonderen Darstellungsart eines dritten Typus unterscheidet, die – sowohl eindeutig als auch doppelsinnig – die Unordnung selbst zum Gegenstand hat. Paradoxerweise wird hier nichts mehr dem geringsten Zufall überlassen, beschäftigt sich doch der Künstler nicht mehr mit der Anordnung der Gegenstände, sondern mit der Komposition als solcher, mit dem Raum (und damit mit der Bildform), in welchen die Gegenstände mit einem knappen Hauch Farbe geworfen und gelegt werden. Collages ready made: Diese Bilder aus dem Alltag geben letztlich die Zähflüssigkeit der Zeit und die Langsamkeit der (abwesenden oder in die Komposition miteinbezogenen) Körper wider, wie sie der Maler bei seiner in realer Zeit ausgeführten Arbeit erfährt.
Die Ausstellung wurde von Urs Stahel kuratiert.